Prächtige Unterhaltung bei "Andersens Erzählungen"
Gleich zu Beginn dieser Inszenierung zeigt sich das Theater als vielschichtige Illusionsmaschinerie, die das Publikum verzaubern will. Da sitzt der Künstler, um den es geht, Hans Christian Andersen, in einer Kutsche; ihm gegenüber sitzt ein maskiertes Wesen, das sich als eine seiner Kreationen entpuppt. Das Mädchen mit den Schwefelhölzern klagt darüber, dass ihm kalt sei. Dabei leiht Andersen ihm seine Stimme, verbirgt seinen Mund mit dem Gehstock - ein leicht amateurhaft wirkender Bauchredner.
Hier wird schon klar: Der Dichter spricht zu sich selbst und zu uns durch seine Figuren. Die Geschichte, die er dann erfindet, soll ihn und das Mädchen von der Kälte dieser Welt ablenken und entführt in einen Kosmos, der jenseits der Kutsche bereits vorhanden ist und sich im Aufdämmern des Bühnenlichts offenbart. Leuchtende Quallen und Fische, von schwarz gekleideten Puppenspielern animiert, und drei waschechte, herrlich singende Meerjungfrauen tummeln sich in einer fein gemalten Unterwasserwelt. Nach Senken und Heben des Vorhangs ist alles im Nu wieder verschwunden: Man blickt in ein in Weiß gehaltenes, biedermeierliches Interieur, das nüchtern und streng geordnet wirkt.
Die Kunst kommt aus dem Leben
Fantasie und Realität wechseln sich ab, durchdringen sich ganz wunderbar in Philipp Stölzls Inszenierung von "Andersens Erzählungen", wobei es nicht nur optisch, sondern auch inhaltlich um die Vermischung beider Ebenen geht. In ihrem Musiktheaterstück, das vor über vier Jahren in Basel uraufgeführt wurde und nun, nach coronabedingter Verzögerung, im koproduzierenden Residenztheater in teils umbesetzter, teils veränderter Fassung gelandet ist, verschränken Jan Dvořák (Text) und Jherek Bischoff (Musik) Andersens Biographie mit seinem Märchen von der kleinen Meerjungfrau, zeigen dabei auf, wie sich die Kunst vom Erlebten, vom eigenen Leid und Träumen nährt.
Verbürgt ist, dass Andersen als junger Mann von seiner Heimatstadt Odense nach Kopenhagen zog, wo der Finanzdirektor des Königlichen Theaters, Jonas Collin, ihn nicht nur beruflich unterstützte, sondern auch Zugang in die höhere Gesellschaft verschaffte. Auch in die Familie Collins fand Andersen Einlass und entwickelte starke Bande mit dessen Kindern, vor allem Tochter Louise und Sohn Edvard. Die homoerotische Liebe zu Edvard ist nun Angelpunkt der Handlung, die am 10. August 1836, am Abend vor der Heirat Edvards mit Henriette Thyberg einsetzt, und sogleich in die Fiktion ausufert, dass Andersen im Hause der Collins unverhofft auftaucht, um den Lauf der Hochzeitsdinge empfindlich zu stören.
Denn Andersen ist weiterhin in Edvard verliebt, so unglücklich, wie es die kleine Meerjungfrau in den Prinzen ist. Die Nähe des Autors zu einer seiner berühmtesten Figuren ist allein schon äußerlich sichtbar, tragen doch Resi-Ensemblemitglied Isabell Antonia Höckel und Tänzerin Pauline Briguet ebenfalls Frack und Zylinder (insgesamt prächtig: die von Kathi Maurer entworfenen Kostüme). Während Höckel die famos singende Nixe gibt, ist Briguet später die Meerjungfrau, die nach ihrem Deal mit der Meerhexe ihre Stimme verloren hat und ihre Gefühle mit ihrem Körper virtuos ausdrückt.
Mit Andersen legt die Meerjungfrau zwischendurch ein verzweifeltes Pas de deux hin (Choreografie: Sol Bilbao Lucuix), zumindest im Tanz kann sich Andersen ein bisschen befreien. Letztlich sind alle Figuren Gefangene, eingezwängt in gesellschaftliche Konventionen und alte Geschlechterbilder. Das Ehepaar Collin verkörpern Cathrin Störmer und Oliver Stokowski mit ähnlich rigider Steife - dass ihr Sohn Edvard homosexuelle Neigungen hat, wissen sie offenbar und schweigen darüber. Beide Schauspieler dürfen sich in anderen Rollen etwas entfesseln: Störmer als wuchtig singende Großmutter der Meerjungfrau; Stokowski als garstige Meerhexe, die in passend krätzigen Gesang ausbricht.
Eine Liebe, die es nicht geben darf
Als Edvard und Märchenprinz ist Thomas Lettow gleich doppeltes Objekt der Begierde. Als Prinz stellt er schon früh unter Beweis, was er für eine charismatische Gesangsstimme hat, und wird als Edvard zur tragischen Figur, die ihr gleichgeschlechtliches Begehren unterdrückt und sich gewaltsam gegen die Annäherungen Andersens wehrt. Edvards Braut in spe, Henriette, wird gegen Ende klar sagen, dass es da eine Liebe gibt, die aber nicht ihr gilt, und sie entwickelt eine leise Verbundenheit mit Andersen - eine Sympathie, von Linda Blümchen und Moritz Treuenfels anrührend zwischen den Zeilen gespielt.
Gerade in der zweiten Hälfte inszeniert Philipp Stölzl manche Szenen mit wunderbarer Ruhe, lässt Stille und vielsagende Blicke zwischen den Figuren zu. Mit Moritz Treuenfels hat er einen Hauptdarsteller, der Andersen in allen möglichen Facetten, zwischen hochfliegender Künstlerschaft und gebückter Verzagtheit, verletzter Sensibilität und trotziger Selbstbehauptung schillern lässt. Auch andere Figuren tauchen auf, der Zinnsoldat und der nackte Kaiser aus "Des Kaisers neue Kleider" - Spiegelfiguren des Autors, die ihm Trost geben und denen er Trost gibt, inmitten eines von Stölzl und Heike Vollmer herrlich ausgestatteten, famos wandelbaren Szenarios. Jherek Bischoff hat dazu Musik komponiert, die zwar kaum einprägsame Melodien bietet, aber spätromantisch das gefühlvolle Geschehen unterstützt.
Das von Stephen Delaney geleitete Orchester spielt kristallklar und wird zuletzt wie alle Beteiligten stark bejubelt. Ob das melancholische, zum Teil düstere Stück sich, wie angegeben, für Menschen ab 10 Jahren eignet, darf bezweifelt werden. Aber "Andersens Erzählungen" ist auf jeden Fall betörende, anspruchsvolle Unterhaltung mit einem starken Plädoyer dafür, dass jede Liebe erlaubt sein muss.
Residenztheater, Mi, 22.11., Fr, 24.11., Di, 28.11., 19.30 Uhr; So, 26.11., 16 Uhr; Karten unter Telefon 2185 1940
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