Kritik

Philipp Arnold adaptiert im Volkstheater Erich Kästners "Fabian"

Der Regisseur erweitert Kästners Perspektive durch drei zeitgenössische Texte aus Osteuropa - ein geglücktes Experiment
Michael Stadler |
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Jonathan Müller (links), Nina Steils, Pascal Fligg, Silas Breiding, mit Ruth Bohsung.
Arno Declair Jonathan Müller (links), Nina Steils, Pascal Fligg, Silas Breiding, mit Ruth Bohsung.

Während das Publikum in den Zuschauerraum des Volkstheaters strömt, ist auch er schon in Bewegung: Fabian, die Titelfigur von Erich Kästners Roman, verkörpert von Anton Nürnberg. Eine Runde nach der anderen geht er um das große, stählerne Gerüst herum, das Viktor Reim auf der Bühne eingerichtet hat, und zeigt sich hier schon als der unruhige Flaneur, der er auch bei Kästner ist.
Dabei dreht Fabian sich immer nur im Kreis. Er, der kurz im Ersten Weltkrieg gedient hat und jetzt als Werbetexter im Berlin der frühen 1930er arbeitet, kommt nicht vorwärts, verharrt in der Position des stillen Beobachters. Das Gesicht von Silas Breiding, der ebenfalls Fabian spielt, wird bald auf das sich drehende Gerüst projiziert. Sein Blick schweift hin und her, während auf dem Rundhorizont im Breitwandformat Archivmaterial aus den Dreißigern flimmert: Berliner Großstadtimpressionen, ein schwebender Zeppelin, eine Welt im Umbruch, die Fabian überwältigt, sich seinem Verstehen entzieht.

Die Welt ist aktuell aus den Fugen


Gewisse Parallelen in unsere unsichere Gegenwart lassen sich da durchaus ziehen, auch wenn Kästner seinen Roman einige Jahre vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs geschrieben hat, während derzeit gleich mehrere Kriege die Welt aus dem Lot bringen. Volkstheater-Hausregisseur Philipp Arnold hat das Buch während eines Aufenthalts in Vilnius gelesen, in einer Zeit, als der Krieg in der Ukraine bereits ein Jahr andauerte. Dabei kam er auf die Idee, zwei Autorinnen und einen Autor aus Osteuropa einzuladen, ausgehend von Kästners Roman neue Texte zu schreiben, die den Stoff ins Heute weiterdenken und eine osteuropäische Perspektive bieten: auf das Buch, auf die aktuelle Situation in Europa.Arnold und Dramaturgin Hannah Mey haben Kästners Vorlage auf recht wenige Stellen eingedampft, reduzierten dabei auch das Personal und kürzten die Texte von Arna Aley, Viktor Martinowitsch und Maryna Smilianets auf eine erträgliche Spiellänge.

Was auf den ersten Blick ziemlich konstruiert wirkt, leuchtet auf den zweiten Blick, zumindest streckenweise, ein. Kästners Metapher vom "Wartesaal Europa" lässt sich etwa durchaus auf heutige Verhältnisse übertragen, nur, dass damit nicht Fabians Gefühl des Stillstands beschrieben wird, sondern die Situation von zehn Millionen Ukrainerinnen und Ukrainern, die jetzt in der Fremde ausharren müssen, bis sie in ihre Heimat zurückkehren können. Auch die Unfähigkeit Fabians, sich politisch zu positionieren und Entscheidungen zu fällen, kommt einem bekannt vor.

Fabian ist einer, der sich nicht einmischt


Dem Zögerer gegenüber steht sein bester Kumpel Labude, ein überzeugter Kommunist, der davon spricht, dass die bürgerliche Jugend sich radikalisieren und die kapitalistische Ordnung umstürzen muss. Der auch in dieser Volkstheater-Produktion herausragende Pascal Fligg macht aus Labude einen leichtfüßigen, tänzelnden Filou, der mit seinem Elan den weitgehend statisch inszenierten Abend immer wieder auflockert. Am Ende wird Labude jedoch sowohl privat als auch karrieremäßig scheitern. Labude verlässt dementsprechend ohne jeden Swing die (Lebens-)Bühne. Vor allem für die Männer mündet Kästners Roman in die Desillusionierung, teilweise in den Tod. Die Frauen hingegen wirken lebenstüchtiger, angeln sich Fabian selbstbewusst und machen im Fall von Irene Moll sogar Geld mit dem Sex. Bei Nina Steils kommt die Verruchtheit der Männerbordellbesitzerin raffiniert in aller Fröhlichkeit daher. Ruth Bohsung wirkt als Juristin Cornelia verhaltener, wird trotzdem Film-Schauspielerin, wobei sie ihre Karrieresprünge einem 50-jährigen Produzenten zu verdanken hat.

Silas Breiding als klassischer Hollywood-Star


Die Szenen zwischen Fabian und seinen Frauenbekanntschaften werden vom Ensemble live abgefilmt und in Schwarz-Weiß auf das hintere Rund projiziert. Silas Breiding hat das Zeug zum klassischen Hollywoodstar, die Zigaretten, die er als Film-Fabian raucht, erscheinen als Coolness-Zeichen einer vergangenen Ära. Die Intimität aber, die dem Zuschauer im großen Bild näherkommt, ist eben klar das: eine (filmische) Inszenierung. Der Schein trügt, die Liebe ist bei Kästner ein vorübergehender Traum.

Was direkte Aktionen auf der Bühne angeht, hält Philipp Arnold sich in seiner Inszenierung weitgehend zurück. Gerade das neue Material sprechen die sechs Spieler vornehmlich frontal ins Publikum, wobei die Texte sich auch nicht unbedingt für eine Dramatisierung eignen. Die ukrainische Autorin und Schauspielerin Maryna Smilianets hat bloghafte Einträge geschrieben, die an Fabians Spaziergänge durch Berlin anknüpfen. Sie selbst kam im Januar 2022 zum ersten Mal nach Berlin, geriet als Touristin am Brandenburger Tor in eine Anti-Kriegs-Demonstration, bei der sowohl ukrainische, als auch belarussische und georgische Fahnen wehten. Kurze Zeit später sollte sie nach Berlin zurückkehren und die Stadt aus der Perspektive einer Geflüchteten wahrnehmen - willkommen im Wartesaal Europa. Der belarussische Schriftsteller Viktor Martinowitsch erzählt die Geschichte eines Paars, das aus Belarus geflohen ist und dabei seine Tochter zurücklassen musste, weil die Siebenjährige ein neues Visum gebraucht hätte. Als sie in der Puppenklinik Berlin eine Puppe kaufen wollen, geraten sie in eine heftige Auseinandersetzung mit einem Mann aus der Ukraine. "Wir sind keine Feinde. Wir sind genauso Opfer wie sie", insistieren die Dissidenten aus Belarus, aber ein Einverständnis scheint kaum möglich zu sein.

Eine mitreißende Ensemble-Leistung


Pascal Fligg und Jonathan Müller haben da zumindest an den Mikrofonen einen Dialog zu spielen, was sie leidenschaftlich machen, die Bühne in rotes Licht getaucht, im Hintergrund eine, später mehrere maskierte Figuren, die Gliedmaßen an Puppenkörper nähen als ob es Kriegsversehrte sind. Der Text von Arna Aley ufert schnell ins Groteske aus, was Kostümbildnerin Julia Dietrich zu futuristisch-irren Kreationen und Arnold zu einem weiteren Film-Teil inspiriert hat. Alles sehr gaga, mit Nina Steils als Göttin, die sich mit baierischem Akzent in rechtspopulistische Reden hineinsteigert, womit erneut eine Brücke zu Kästners Roman geschlagen wird, in dem der Nationalsozialismus bedrohlich aufdämmert.

"Was tun?" ist eine Frage, die am Ende gleich mehrfach gestellt wird. Eine Antwort bietet der luftig-abwechslungsreiche Abend nicht und gibt auch keine Ahnung davon, wie der eingeforderte politische Aktivismus denn aussehen könnte. Immerhin: Die Passivität Fabians erscheint als schlechtes Vorbild. Die gemeinschaftliche Leistung des Ensembles, das sich beim Erzählen gut rhythmisiert abwechselt und sich der Herausforderung dieses vielstimmigen Projekts beherzt stellt, begeistert hingegen.

Volkstheater, Bühne 1, 29. November; 5., 6., 11., 22., 23. Dezember, 19.30 Uhr; Karten 523 46 55

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