Ostermaiers "Superspreader": Ein fettes Knäuel Beziehungsfäden
München - Das Corona-Virus befällt nicht nur den Körper, nein, er infiziert das ganze Denken. Im Kopf von Albert Ostermaier hat der fiese Erreger sich offenbar besonders tief eingenistet, hat er doch den Münchner Schriftsteller zu einem Stück angeregt, in dem die Assoziationen nur so wuchern, weil der Virus dafür nun mal auch sehr gut taugt. Eben, infizieren, anstecken - solche und andere Begriffe lassen sich auf unterschiedlichste Phänomene metaphorisch anwenden.
Wortspielverliebte Zeitgeistverwurstung bohrt sich ins Hirn
In diesem Sinne hat Ostermaier ein fettes Knäuel sich vernetzender Bedeutungsfäden gestrickt, enervierend, virtuos, und er hat das Ganze "Superspreader" genannt, womit seine Hauptfigur, aber vielleicht auch der Text selbst gemeint ist. Denn dieses Stück geriert sich wirklich als "Superverbreiter", dehnt sich auf gerade mal 30 Seiten themenumspannend, weltumfassend aus, ist ein kurzes Covid-19-Epos in monologischer Form, eine wortspielverliebte Zeitgeistverwurstung, die sich allein schon beim Lesen ins Gehirn bohrt: Ist Lesen nicht auch eine Art von Infektion, mit den Gedanken eines anderen?
Der Protagonist des Stücks heißt Marcel, ist von Beruf Unternehmensberater, analysiert also für Konzerne, wo "der Keim für eine kommende Krise" steckt. "Es ist ganz einfach: Ich rede sie krank, damit ich sie gesund machen kann. Sie können auch sagen: Ich bin der Impfstoff gegen Insolvenzen, die Infusion für den Erfolg."
Vielleicht ist Marcel auch das personifizierte Zoom-Meeting
Der Bogen zur Virologie ist damit bildreich gespannt, aber dieser Marcel kann auch vieles andere sein: der erste Covid-19-Infizierte zum Beispiel ("Ich war der Erste") oder der flüchtige Ex-Wirecard-Manager Jan Marsalek - schwingt schon allein im Namen Marcel mit - oder ein Handlungsreisender in Quarantäne oder das Virus selbst.
Vielleicht ist er auch das personifizierte Zoom-Meeting. Die sind derzeit wieder omnipräsent und reichen in die Freizeitgestaltung hinein. Also: Freizeit, dazu gehört ja auch die Kultur, zumindest in den Augen mancher, und weil man weiterhin nicht ins Theater gehen kann, kommen die Theater zu einem nach Hause, in Form von Live-Cam-Performances, per Zoom.
Oft spricht Florian Jahr frontal in die Kamera
Dann sitzt man also wieder abends vor seinem Laptop, hat noch 14 andere Teilnehmer als kleine oder große Kästchen, je nach Wahl und voyeuristischer Neigung, vor Augen sowie den Schauspieler Florian Jahr, der eine Stunde lang live den "Superspreader" gibt. Dabei befindet er sich einem Raum, der mit Fenster, Bett und Waschbecken stark nach einem Hotelzimmer aussieht, eines, das sich, schaut man sich die geschmacklosen Vorhänge an, bestimmt nicht im Bayerischen Hof befindet. Beim anschließenden Publikumsgespräch meint Florian Jahr, dass für ihn dieser Raum ein "Bunker" sei, ein "Un-Ort". Was für Marcel mit seinen tausend Identitäten ein durchaus passendes Biotop ist.
Was Florian Jahr innerhalb von einer Stunde schafft, ist eine beachtlich konzentrierte Darbietung des (gekürzten) Textes. Oft spricht er frontal in die Kamera, einmal in den Spiegel über dem Waschbecken - eine Dauerperformance im Auge der anderen und mit Blick auf sich selbst, in ständiger Spannung, selbst wenn Ostermaiers Suade kurz in eine Raucherpause abbiegt.
Florian Jahr illustriert oft nur das, was gesagt wird
Die Aktivierung des Publikums, von der das Theater-Zoom-Format träumt, funktioniert jedoch kaum, weil die Inszenierung dafür auch wenig Luft lässt. Und die Zuschauer haben sich nun mal sowieso im Modus des Zuschauens eingerichtet, ob sie nun in einem Saal oder daheim vor dem Bildschirm sitzen.
Nora Schlocker, Hausregisseurin am Bayerischen Staatsschauspiel, hat sich sichtbar Mühe gegeben, etwa durch Lichtwechsel, die dank verschiedener Lichtquellen im Hotelzimmer möglich sind, etwas Dynamik ins Bild zu bringen. Auch Florian Jahr ist immer wieder in Bewegung, aber oft illustriert er nur das, was gesagt wird. Streift der Text jene Badeurlauber, die heuer trotz Pandemie Haut an Haut an den Stränden lagen, zeigt Jahr ein dementsprechendes New-York-Times-Cover. Und wenn es darum geht, dass Marcel sich jeder Gesichtserkennung entzieht, teigt er in seinem Gesicht herum.
"Wenn ich der Erste war, wirst du der Letzte sein?" fragt Marcel
Ein wenig wühlt er auch in seiner Familiengeschichte; man sucht ja gerne nach der "Backstory Wound", nach der Wunde aus der Kindheit, die heutige Pathologien erklären könnte. "Ich hätte dich abtreiben sollen", meinte Marcels Mutter zu ihm, aber er ist nun mal da, der Virus ist da und nun dieser Text - die viralen Ketten ziehen sich immer weiter fort.
"Wenn ich der Erste war, wirst du der Letzte sein?" fragt Marcel und schenkt allen einen Hauch von Tröpfcheninfektion. Die Infizierten senden Applaus zurück. Wer Lust auf etwas abendliche Gesellschaft und einen beherzt spielenden Schauspieler verspürt, ist hier an der richtigen Stelle. Wer aber die Nase voll von Video-Meetings hat, sollte seine, hoffentlich sorgsam desinfizierten Hände von diesem "Superspreader" lassen.
Die nächsten Aufführungen am 7., 10. und 15. Dezember sind bereits ausverkauft. Weitere Termine, auch kurzfristig, in diesem und im nächsten Jahr. Infos unter www.residenztheater.de
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