Martin Schläpfers Version von Mahler Siebter Symphonie
Was hat sich Martin Schläpfer da alles ausgedacht! Sein 2013 entstandenes Opus b.17 zu Gustav Mahlers Siebter Sinfonie dauert „nur“ eineinhalb Stunden. Und die vergehen – Heimatklänge wie Kuhglocken in der musikalischen Vielfalt eingeschlossen und von den Düsseldorfer Symphonikern unter Axel Kober wunderbar live begleitet – wie im Flug. Wenn am Ende seiner schlicht „7“ betitelten Choreografie eine Tänzerin mit ausgebreiteten Armen wie die Figurine einer Spieldose auf eben jenem Hocker langsam um die eigene Achse kreiselt, den sie in ihrem Solo zuvor als schützenden Schild vor sich her und schildkrötenpanzergleich als behütendes Dach über dem gefalteten Körper balanciert hat, ist man schier erschlagen. Der Eindrücke übervoll.
Hatte Richard Siegal zur Festwocheneröffnung das Bayerische Staatsballett aus der Sicherheit bestehender Formen geschleudert, so entrückte der Direktor und Chefchoreograf des Balletts am Rhein Düsseldorf Duisburg das Publikum in fünf facettenreichen symphonischen Sätzen in ein traumverschlungenes Paralleluniversum rastloser Existenzen. Der Gedanke an John Neumeiers Ende März in Hamburg wieder aufgenommene „Winterreise“ drängt sich auf.
Doch das Bewegtsein, die vielen kleinen, zwischen den schläpferschen Gestalten (zuweilen sogar glückselig) dahinbrodelnden Geschichten und deren Wucht von Darstellung ist eine gänzlich andere: skurril, grotesk, mal grob und brutal (wie die Szene der Steinigung einer Frau), dann von gewitzter Zärtlich- oder Abhängigkeit. Beginnend mit dem (noch vor Einsatz der Musik) vornüber gebeugten Hereintapsen eines in einen Mantel gehüllten Mannes zeichnet Schläpfer ein von choreografischen Ideen und Gefühlsstimmungen überquellendes Psychogramm Getriebener. Deren Impulskraft bricht innerhalb der von Ausstatter Florian Etti mit Lamellen versehenen, den Bühnenraum abgrenzenden Wänden immer wieder unverhohlen hervor.
Ein Trio spielt den Dampfzug
Obwohl Schläpfer verhältnismäßig spät zum Tanz kam, führte ihn sein Weg schnell zu Heinz Spoerli ans Basler Ballett. Von dort aus entwickelte er sich vom charismatischen Solisten und passionierten Pädagogen über die Berufung als Leiter der Berner Kompanie 1994 ohne größere Vorerfahrungen zum autarken, leidenschaftlichen Balletterfinder. Dabei schätzt er gewisse feste Regeln, deren scheinbare Grenzen er immer wieder aufs Neue zu verbiegen und zu verschieben schafft.
Das macht ihn, der wie George Balanchine oder Hans van Manen – jeden für sich schätzt er hoch – auf der akademischen Basis der Danse d’école aufbaut, so innovativ. Ohne zu demontieren oder ins Destruktive zu gehen. In München schürft Schläpfer nun aufs Neue in der Tiefe. Er analysiert, lockt seine Interpreten aus der Reserve und hinterfragt jede Bewegung, um den Code zu finden, der ihn zur passenden Dramatik, Sinnlichkeit und Schattierung führt. Dabei treibt er die Körperlichkeit der Tänzer ins Extreme – mit dem Ziel, Inhalte zu transportieren. Auf den Subtext kommt es ihm an, auf das, was eine Bewegung beim Interpreten und Zuschauer auslöst.
Selbsterkenntnis im Spiegel
Tatsächlich verblüfft die Wirkung zu Mahlers Komposition steppender oder ihre Spitzenschuhe und Stiefelabsätze laut in den Boden rammender Tänzerbeine. Mit den Fersen aufstampfend lässt der Schweizer Choreograf ein Grüppchen auf dem Hintern vorwärtsrutschen. Wie aus dem Nichts formen sich große Ensembletableaus und unerwartet neue Personenkonstellationen, unter denen ein Trio auffällt, das Dampfzug spielt.
Den 4. Satz dominiert ein Kleeblatt aus zwei Paaren, das ein wenig wie in Jasmina Rezas „Gott des Gemetzels“ den Blick hinter die Wohnzimmergardinen und hinein in das partnerschaftliche Gedankengewölbe lenkt. Subtil und hintergründig. Man erkennt sich quasi selbst, wenn die Tänzer bei ihrem morgendlichen Blick in den Spiegel die Bartstoppel und Augenringe präsentieren. Nach viel Potenzial für Assoziationen: heftig aufbrausender Applaus für die strahlenden Gäste.
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