Mariss Jansons dirigiert "Pique Dame"
Hat Hermann beim Anziehen das Hemd vergessen? Und im Kleiderschrank gleich noch gehörig daneben gelangt? Wacht dieser Held der Puschkin-Oper „Pique Dame“ von Peter Tschaikowsky, dieser junge Offizier, morgens tatsächlich bereits vollkommen kopflos auf?
Auf jeden Fall trägt Brandon Jovanovich in der Salzburger Neuinszenierung von Hans Neuenfels über nacktem Oberkörper eine Art roter Zirkusdirektoren-Jacke mit goldenen Kordeln, die ihn von der mondänen Kleidung seiner Freunde unterscheidet: ein Sonderling. Schon beim zwanglosen Zusammensein wälzt er sich auf dem Boden und auf dem grünen Casinotisch: ein Neurotiker. Im Ganzen: ein Hysteriker.
Dieser neurotisch-hysterische Sonderling sucht in dem selten gespielten Stück die ganz große Erfüllung. Und meint, sie in der Liebe zur Aristokratin Lisa gefunden zu haben, die er einem Kameraden, dem Fürsten Jelezki, ausspannt. Doch seine Spielleidenschaft ist stärker. Er stürzt nicht nur seinen Nebenbuhler ins Unglück, sondern auch seine Angebetete und deren Großmutter – gespielt von der legendären Hanna Schwarz – die ihm das Geheimnis der „drei Karten“ verraten soll.
Das Orchester als Hauptdarsteller
Hauptdarsteller Jovanovich entspricht leider auch gesanglich seiner Figur: Zu unruhig flackert der Tenor des Amerikaners, zu dünn, das hohe „H“ gerät kapaunhaft. Die gebürtige St. Petersburgerin Evgenia Muraveva als seine angebetete Lisa kommt ihm gleich in dieser Flüchtigkeit, die ständig zum Verschwinden neigt.
Ihr Sopran wirkt noch nicht voll ausgebildet und braucht lange zum Einschwingen und ansatzweisen Erblühen. Diese Zeit gewährt ihr Mariss Jansons am Pult der Wiener Philharmoniker auch, doch er kann nicht ganz verhindern, dass das glänzend disponierte Orchester zum Hauptdarsteller dieser Aufführung im Großen Festspielhaus wird.
Die Holzbläser schmelzen auf den Kantilenen dahin, die eigentlich zuerst den Sängern zustünden, die Streicher können voluminös, geschmeidig oder herzhaft würzig klingen, die Hörner verschenken einen zum Sterben schönen Obertonreichtum, den auch die tüchtigsten der Nebendarsteller auf der Bühne nie ganz erreichen.
Pflichtschuldige Provokation
So blass das Liebespaar bleibt, so gediegen zeigt sich die Inszenierung. Neuenfels provoziert eher pflichtschuldig, wenn die Ammen zu Beginn überdimensionale Milchbrüste vor sich hertragen oder die Kinder, die aus Käfigen herausgelassen werden, aussehen wie die unheimlichen Sprösslinge in dem Horrorfilm „Das Dorf der Verdammten“ (Kostüme: Reinhard von der Thannen). Beim Auftritt der Zarin winkt ein Skelett im durchsichtigen Reifrock der Menge zu (Bühne: Christian Schmidt).
Gleichzeitig konzentriert sich Neuenfels wohltuend auf die Personenregie und beweist Geschick darin, die Massen zu dirigieren. Dem Wiener Staatsopernchor gebührt hier ein dickes Lob: Er strahlt prachtvoll, selbst wenn er sinnlose Turnübungen machen muss, die Bässe steigen im Finale sogar in die Grabestiefen russischer Mönchschöre hinab.
Kunst und Charisma
Beim Schlussapplaus gibt es nur wenige Buhs für die Regie. Neuenfels hätte sich mit seinem Team ruhig einmal dem Publikum stellen können, anstatt sich, an der Hand von Mariss Jansons, in die unübersichtliche Menge der Mitwirkenden zu flüchten.
Die eindrucksvollste Partie ist in dieser Salzburger Festspiel-Produktion die der greisen bösen Gräfin. Hat die bald 75-jährige Hanna Schwarz zunächst noch Mühen, sich gegen die Wiener Philharmoniker durchzusetzen, findet sie in ihrer Szene, sobald sie die rote Gisela-May-Perücke abgesetzt hat und ihr kahler Schädel zum Vorschein kommt, zu magischen, geisterhaften Tönen, in denen ihre Jugend im alten Russland vor dem inneren Auge der gebannten Zuhörer erscheint.
Mit einem solchen Charisma kann keiner der jüngeren Sänger des im Ganzen zu unscheinbaren Ensembles mithalten.
Weitere Aufführungen im Großen Festspielhaus Salzburg: 10. August (19.30 Uhr), 13./22./25. August (19 Uhr), 18. August (20 Uhr), Karten: 0043/ 662 804 5500 / info@salzburgfestival.at. Ein Mitschnitt wird am 16. August, 20.45 Uhr, auf Servus TV gezeigt. Im Rahmenprogramm gibt es Einblicke hinter die Kulissen und auf die Entstehung der Neuinszenierung der "Pique Dame".
- Themen:
- Salzburger Festspiele