"März" nach Heinar Kipphardt in der AZ-Kritik

Zwangsjacke Normalität: „März“ nach dem Roman von Heinar Kipphardt in den Kammerspielen
von  Gabriella Lorenz

Das Liebe ist schön/ Schöner als das Singen/ Das Liebe hat zwei Personen/Das ist beim Liebe der Kummer“. So bringt es der schizophrene Dichter Alexander März auf den Punkt. Nach dem Roman „März“ von Heinar Kipphardt inszenierte Johan Simons in der Spielhalle eine Fassung seines Dramaturgen Jeroen Versteele, die sich ganz auf die Glücks- und Liebessuche zweier Psychiatrie-Patienten konzentriert. Eine so beklemmende wie großartige Aufführung, tollkühn in ihrer Reduktion und der Intensität von Thomas Schmauser und Sandra Hüller.

Alexander März hat ein reales Vorbild: Der schizophrene Ernst Herbeck nannte sich als Dichter Alexander Herbich, seine Texte publizierte der Psychiater Leo Navratil. Die Figur hat den 1982 verstorbenen Psychiater und Schriftsteller Heinar Kipphardt lange beschäftigt. 1975 entstand der Film „März – ein Künstlerleben“, dann folgten Roman, Hörspiel und 1980 das Theaterstück „März“.

Schwächeanfälle im Trockeneis

Dem Dokumentaristen Kipphardt („In der Sache Robert J. Oppenheimer“, „Bruder Eichmann“) ging es um den Zusammenhang zwischen psychischer Erkrankung und kranker Gesellschaft. Wenn Normalität zur Zwangsjacke wird, halten manche Sensible dem gesellschaftlichen Druck nicht stand. Wie März, ein wegen Hasenscharte und Sprachfehler ungeliebter Sohn, und Hanna Grätz, als uneheliche Tochter verleugnet und missbraucht. Sie finden sich in der Klinik und brechen aus: Ihr Versuch eines eigenen Lebens steht bei Simons im Fokus.

Beklemmend ist schon der steril hellgraue Raum von Bettina Pommer: Rundum steile Tribünen, auf drei Seiten bestuhlt, in der Mitte ein großes Wasserbecken, aus dem viel Trockeneisnebel dampft. Der verursachte bei der Premiere gleich zwei Schwächeanfälle: Eine Zuschauerin wurde von Thomas Schmauser selbst hinausgeleitet, kurz darauf brach Heinar Kipphardts Witwe Pia zusammen. (Es ging ihr danach wieder besser.)

Alles lebt aus der Innenwelt großartiger Schauspieler

In diesem ausweglosen klinischen Raum mit nur drei Türen ganz oben spielt alles. März und Hanna sind auf eine Alm geflüchtet und stellen Räucherkäse her, wozu wohl das Becken voller Milch dient. Sie erzählen sich ihre Kindheitsverletzungen, ihre Träume und sexuellen Fantasien, ihre Sehnsüchte und Glücksvorstellungen, imaginieren einen Ausflug zum Flughafen, leisten sich einen Kinobesuch.

Es ist ein zartes, Verstehen, aber auf Distanz. Thomas Schmauser tigert ruhelos herum, setzt sich ins Publikum oder wirft sich ins Schaumwasser. Hanna bleibt eher reagierende Zuhörerin. Aufmerksam beobachtet Sylvana Krappatsch als Arzt Dr. Kofler das alles und liest aus März’ Krankenakte vor.

Die große Szene wiederholt sich wortgleich – aber ganz anders gespielt. Nun ist Hanna die Getriebene, zunehmend aggressiv und gewalttätig, abdriftend in die Psychose. März will sie umarmen, küssen, halten – alles wird Kampf. Sandra Hüller ist weniger laut und raumgreifend als Schmauser, ihre Präsenz umso umwerfender. Liebe ist unmöglich geworden, die Realität entglitten. Beide landen wieder in der Anstalt. Hanna muss man von ihrem Neugeborenen trennen, März verbrennt sich als gekreuzigter Jesus Christus im Apfelbaum.

Simons bebildert nichts, alles lebt aus der Innenwelt der phänomenalen Schauspieler, die Grenzüberschreitungen wagen.

Kammerspiele, Spielhalle, 11., 19., 21., 27. 3, 20 Uhr, Aufführungen bis 27. 4. Telefon 233 966 00

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