„Lear“ - Angriff auf die zahlenden Gäste

Gelungene Premiere bei den Salzburger Festspielen: Aribert Reimanns Oper „Lear“ in der Produktion von Simon Stone.  
Michael Bastian Weiß |
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Gelungene Premiere bei den Salzburger Festspielen: Aribert Reimanns Oper "Lear" in der Produktion von Simon Stone.

Wenn Publikum auf der Bühne sitzt, kann der Veranstalter eigentlich zufrieden sein. Dann ist nämlich ausverkauft. Auch in der Premiere dieser Neuinszenierung der Oper "Lear" von Aribert Reimann bevölkern feine Damen und Herren die Bühne der Felsenreitschule.

Hier jedoch hält dieser eher gewöhnliche Umstand einen spektakulären Clou bereit, ja, sogar einen Schock: Als im zweiten Teil die bösen Schwestern die Macht übernehmen, werden einzelne Zuschauer, darunter selbst würdige ältere Herrschaften, von Security-Typen abgeführt, zu Boden geschleudert und mit Blut beschmiert. Es handelte sich von Anfang an um Statisten.

Sicherlich hat in der Geschichte der Salzburger Festspiele schon mancher Regisseur Groll gegen sein Publikum gehegt. Doch Simon Stone geht viel weiter. Hat es so einen ungeschminkten Angriff auf die tüchtig zahlenden Gäste schon einmal gegeben? In dieser Unverschämtheit liegt die Relevanz der Inszenierung des jungen Australiers, der auch als Schauspieler, Autor und Filmemacher tätig ist.

Die Zuschauer werden zu Komplizen gemacht

Nicht nur ist diese Attacke bereits im Stück angelegt, in welchem ja explizit die Hand gebissen wird, die füttert. Mehr noch: Der symbolische Gewaltakt reißt das Publikum stellvertretend aus einer selbstzufriedenen ästhetischen Distanz, die einem existentiellen Stück wie Reimanns "Lear" zutiefst unangemessen ist. Die Zuschauer werden zu Komplizen gemacht. Damit erreicht die Inszenierung dieselbe Intensität, die Reimanns körperlich expressiver Gesangsstil auch den Darstellern abverlangt.

Besonders die herrschsüchtige Goneril wird von Evelyn Herlitzius mit dramatischen Spitzen hochgetrieben, während Regan von Gun-Brit Barkmins leichter, verführerischer porträtiert wird. Der estische Bariton Lauri Vasar als Gloster tönt nicht nur machtvoll, sondern spielt auch den brutal Gefolterten, dem auf offener Bühne beide Augen ausgestochen wurden – erschütternd, wenn er, verrückt geworden, mit Micky-Maus-Maske von der Bühne tanzt (Kostüme: Mel Page).

Wie alle Sänger holen die deutlich deklamierenden Tenöre Matthias Klink als Kent und Charles Workman als Edmund alles heraus, was Reimann in ihre Partien gelegt hat. Allein der Schauspieler Michael Maertens als Narr versucht, ein wenig Komik in das Geschehen zu bringen. Sein Scheitern verdichtet die albtraumhafte Atmosphäre nur noch.

Dabei hat Stone das Publikum am Anfang mit handwerklich versierter Hinterfotzigkeit in Sicherheit gewiegt: Eine leuchtende Wiese von echten Blumen betört das Auge. Lear verkündet auf ihr seinen Rückzug und feiert dann eine schon ziemlich drastische Sadomaso-Orgie.

Wasser aus einer Sprinkleranlage macht das kunstvolle Arrangement zu Matsch

Kurz darauf wird er, von der eigenen Brut verraten, das Grünzeug manisch zerrupfen, im Moment seines nackten Wahnsinns sprüht Wasser aus einer Sprinkleranlage und macht das kunstvolle Arrangement zu Matsch (Bühne: Bob Cousins). Mit dem Morast schmiert sich dann Kai Wessel als Edgar ein und wird damit zu einer Art Erdgeist, einer so bizarren wie anrührenden Phantasiegestalt, die sich in entrücktem, von Registerbrüchen immer wieder gestörtem Altgesang äußert.

Es wirkt heute hellsichtig, dass Reimann Ende der 1970er Jahre dieses damals noch exotische Stimmfach besetzte. Er scheint damit die Renaissance von Stimmtypen vorweggenommen zu haben, die sich durch die Alte-Musik-Bewegung mittlerweile durchgesetzt haben.

Kai Wessel hat Purcell gesungen, Anna Prohaska Händel, Gerald Finley die großen Baritonrollen von Mozart, alle historisch informiert. So ist Prohaskas Cordelia von einer sopranistischen Reinheit, die zum Zeitpunkt der Münchner Uraufführung noch unentdeckt war. Gerald Finley aber hat in der Titelrolle des Lear nicht nur die Kompromisslosigkeit für Reimanns avantgardistische Musiksprache, sondern verströmt dabei ein Belcanto, das diese Ausnahmepartie mit ungeahnten Facetten anreichert.

Im Gespräch mit der AZ hatte Komponist Reimann selbst betont, dass die Orchester heute den "Lear" viel leichter bewältigen als zur Zeit seiner Entstehung. Dennoch ist es bemerkenswert, wie gelassen Dirigent Franz Welser-Möst mit geradezu elegantem Schlag durch die Partitur führt und welche überlegene kalte Pracht die Wiener Philharmoniker erstrahlen lassen.

Wenn es in dieser künstlerisch und emotional harten Produktion ein vermittelndes Element gibt, dann kommt dieses vom Orchester. Das heftig angegangene Publikum beweist am Schluss Liberalität: Es gibt nur vereinzelte Buh-Rufe, die vom Applaus erstickt werden. Besonders herzliche Bravi erhält der anwesende Komponist. Da sage noch einer, die Salzburger Festspiele betrieben altmodische Kulturpflege.


Weitere Aufführungen am 23., 26. und 29. August. Karten gibt es unter +43/662 804 5500 und www.salzburgerfestspiele.at

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