Kritik

"Krieg und Frieden" im Nationaltheater: Fanatismus und Katzenjammer

Vladimir Jurowski und Dmitri Tcherniakov wuchten Prokofjews "Krieg und Frieden" auf die Bühne des Nationaltheaters.
Robert Braunmüller
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Der Brand von Moskau.
Der Brand von Moskau. © Wilfried Hösl

München - Nach der Pause stellen sich durchaus Zweifel ein, ob es sinnvoll ist, eine stalinistische Lesart von "Krieg und Frieden" auf die Bühne des Nationaltheaters zu bringen.

Russische Selbstkritik auf der großen Bühne

Voraussetzungslos lassen sich die Oper und ihre Aufführung kaum angemessen goutieren. Wer den Überblick behalten will, sollte Tolstois Roman ebenso kennen wie den Raum, den die Bühne zitiert. Und letztendlich erörtert die Aufführung Fragen, die auf eine russische Bühne gehören, dort aber derzeit nicht diskutiert werden können.

Andrei Zhilikhovsky (Fürst Andrej) mit Olga Kulchynska (Natascha) und Alexandra Yangel (Sonja) am Beginn der Oper "Krieg und Frieden" in Dmitri Tcherniakovs Inszenierung im Nationaltheater.
Andrei Zhilikhovsky (Fürst Andrej) mit Olga Kulchynska (Natascha) und Alexandra Yangel (Sonja) am Beginn der Oper "Krieg und Frieden" in Dmitri Tcherniakovs Inszenierung im Nationaltheater. © Wilfried Hösl

Wenn diese im Zweiten Weltkrieg und kurz danach in Zeiten einer kulturellen Repression entstandene Oper aber gespielt wird, dann so und nicht anders. Vladimir Jurowski (Musikalische Leitung) und Dmitri Tcherniakov (Regie) packen das Übel an der Wurzel und üben radikale russische Selbstkritik. Den beiden gelingt es, das patriotische Dauerfortissimo des Epigraphs am Beginn des zweiten Teils in einen Exzess des Fanatismus zu verwandeln, der sich selbst in Frage stellt und zuletzt in Katzenjammer umschlägt.

Die historische Pracht steht in harter Fügung zu einer sehr gegenwärtigen Schäbigkeit

Schauplatz der Inszenierung ist der Säulensaal des Moskauer Gewerkschaftshauses. Hier fanden die Schauprozesse des "Großen Terrors" statt, hier wurden Komponisten kulturpolitisch gemaßregelt und tote Parteichefs aufgebahrt.

Eine Massenszene in "Krieg und Frieden"
Eine Massenszene in "Krieg und Frieden" © Wilfried Hösl

Die historische Pracht steht in harter Fügung zu einer sehr gegenwärtigen Schäbigkeit: Die Ballszenen mit ihren aus alten Zeitungen zurechtgeschnittenen Schärpen und Diademen haben den Charme der Freizeitgestaltung in einem Arbeitslager.

Beziehungsgewirr nahe an Tolstois Mammutwerk

Der Raum scheint, mit allen Widersprüchen, Russland selbst zu sein. Tcherniakov beherrscht die Kunst, Figuren durch ihren sozialen Habitus knapp, scharf und sehr glaubhaft zu charakterisieren. In der Schilderung des Beziehungsvierecks zwischen Andrej, Natascha, Pierre und Anatol bleibt die Aufführung nahe an Tolstoi - und an Prokofjew, der im ersten Teil immer wieder auf Tschaikowskys "Eugen Onegin" anspielt.

Alles ist von Beginn an auf Verzweiflung gestimmt: Andrej wird durch den Gesang Sonjas und Nataschas gerade noch vom Selbstmord abgehalten. Im ersten Teil sind auch noch die Schurken nicht frei von Charme. Der Krieg verwandelt die Gesellschaft in eine dumpfe, zynische, gewalttätige. Die Schlacht von Borodino ist Spiel im Spiel: eine historisch-patriotische Wehrübung mit Liegestützen und Gymnastik.

Ost gegen West, Alle gegen Alle

Die Russen verteidigen sich nicht gegen die Grand Armée, sie kämpfen gegen sich selbst und zerstören ihre eigenen Werte, als Opfer und Täter des Kampfs Aller gegen Alle, dem Krieg, männlicher Gewaltkult und das Opium der Orthodoxie den Rest geben. Alles kulminiert in einer gigantischen Orgie, die der Feldherr Kutusow mit einem Pistolenschuss und respektvoll anerkennenden Worten über die russische Barbarei beendet, die im Original eigentlich Napoleon zugedacht sind.

Das Grauen steht am Anfang

Dann erschießt sich Andrej aus Verzweiflung, Kutusow (mit heruntergelassenen Hosenträgern, versautem T-Shirt und Stalin-Schnurrbart) legt sich schlafen und bekommt ein Staatsbegräbnis samt dem Auftritt der Altneihauser Feierwehrkapell'n, die den Schlusschor auf der Bühne übernimmt.

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Das Mit- und Durcheinander der beiden Orchester erinnert an ein Spektakel von Charles Ives und entstellt Prokofjews Nationalismus zur grotesken Kenntlichkeit. Der Schalldruck der Aufführung ist auch sonst hoch, was aber stets gut begründet bleibt. Und Jurowski versteht es, mit dem hochpräzisen Bayerischen Staatsorchester auch schon im ersten Teil aus Walzern den stählernen Vorschein des kommenden Grauens herauszuhören.

Die Aufführung erschließt sich Laien womöglich nicht unmittelbar 

Die Allgegenwart menschlicher Abgründe im zweiten Teil ermüdet etwas - trotz wohltätiger Kürzungen. Tcherniakov vermeidet weitgehend Russenkitsch. Der Aufwand der Aufführung grenzt ans Orientalisch-Barbarische: Reife Stars wie Sergej Leiferkus oder Violeta Urmana treten in Episodenrollen auf. Andrei Zhilikhovsky (Andrej), Olga Kulchynska (Natascha) singen fulminant, der etwas enge Tenor von Arsen Soghomonyan passt aber zur Charakterisierung Pierres als Ostblock-Intellektueller. Besser wurde die Oper auch nicht im Mariinski-Theater gesungen, am Bolschoi sowieso nicht.

Eine Warnung zuletzt: Die Aufführung erschließt sich Laien womöglich nicht unmittelbar und verlangt Geduld. Aber die Vorbereitung ist leicht: Die Staatsoper stellt auf ihrer Homepage und im Programmheft optimales Material bereit. Das Maß an Selbstreflexion, das aus Russland stammende Künstler hier auf die Bühne wuchten, stimmt jedenfalls optimistisch: Noch ist dieses Land nicht verloren.


Wieder am 9., 12., 15. und 18. März im Nationaltheater. Karten online und unter Telefon 2185 1920. Die Premiere als Video-on-Demand auf der Website der Bayerischen Staatsoper

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