Kritik

Jochen Malmsheimer im Lustspielhaus

Der Kabarettist mit seinem Programm "Ein Rigorosum sondershausen"
Michael Stadler |
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Der Sprachakrobat Jochen Malmsheimer.
Schwatz Der Sprachakrobat Jochen Malmsheimer.

Man möchte es kaum glauben, aber selbst ein hartgesottener, archaisch bärtiger Mann wie Jochen Malmsheimer schreibt Tagebuch. Dort, wo Teenager(innen) ihre ersten knospenden Gefühle zaghaft in Schriftform bringen, hält der 62-jährige Kabarettist seine Irritation, seine Ungläubigkeit, ja, seinen heiligen Zorn angesichts des Wahnsinns der Welt fest. Wieso löste denn im Jahr 1976 der Montag den Sonntag als ersten Tag der Woche ab? Ausgerechnet der Montag, der "verwanzteste Tag der Woche?!"

Das Tagebuch ist natürlich nur ein Deckmantel dafür, dass Malmsheimer seine neuen Texte aus seinem neuen Programm mit dem sich gar lyrisch teilreimenden, jedes Plakat überfordernden Titel "Statt wesentlich die Welt bewegt, hab ich wohl nur das Meer gepflügt - ein Rigorosum sondershausen" aus einer Kladde auf dem Tisch auf der Bühne im Lustspielhaus im Lichte einer Lampe und, dann doch, der Scheinwerfer vorliest. Würde er seine sich genüsslich ausdehnenden, ins Absurde hineinwindenden Sätze nicht nur inwendig kennen, sondern sogar auswendig vortragen - das wäre wahrlich irre.

Das Jahr 1976 beleuchtet Malmsheimer mit humoristisch-historischem Eifer, Ulrike Meinhof, Wolf Biermann, Erich Honecker und andere Zeitgenossen fliegen mitsamt Pointen am stark beanspruchten Zuschauerohr vorbei - bis die Rede eine Wendung ins kryptische Gebrabbel nimmt, weil irgendein Chatbot sich einklinkt. Vor der wiederkäuenden Gefahr künstlicher Intelligenzen hat Malmsheimer offenbar weder Angst, noch Respekt. Die Frage, was Kunst ist und was nicht, beschäftigt ihn auch später im Programm, "aber wenn man Scheiße noch so lange rührt - am Ende wird kein Marzipan daraus".

Während der Pandemie war er, wie viele andere, zu Hause mit den lieben Seinen eingekerkert - eine Ausnahmesituation, die er wohl auch zum Schreiben genutzt hat.

Schon kurios, wie seltsam fern einem die Seuche heute vorkommt. Wenn Malmsheimer etwa über selbst geschnittene Frisuren und den "Lockedown" kalauert, ist das genauso charmant wie etwas aus der Zeit gefallen. Aber er war ja noch nie einer, der den (politischen) Status quo in den Fokus nimmt; stattdessen zoomt er wie ein manischer Kameramann auf die monströsen Details des Alltags, im Dienste der Verarschung und Veredelung.

E-Bikes und enge Radlerhosen beschäftigen den Rheinländer zum Beispiel aufs Wuterregendste; in Letztere zwängte er sich probeweise selbst, weil ihm der Arzt wegen Bluthochdrucks Radeln empfohlen hat. Dass Kleidung eigentlich dazu da sei, körperliche Makel zu überdecken, stellt Malmsheimer fest und wird sauer, weil er nun den Anblick der Vorausradelnden auf ihren "Hartgummiarschbananen" (ist gleich: Satteln) ertragen muss. Aber immerhin: Er bemitleidet jene, die wiederum hinter ihm fahren…

Da blitzt etwas Empathie auf, ja, ist Kabarett denn nicht auch eine Kunst der Einfühlung? Wunderbar kann Malmsheimer Dialoge spielen, hier sein brummiges Selbst, dort Maik, verdammt nochmal, Maik mit "ai", ein Radfahrer aus Ostdeutschland, der herrlich blöde Fragen stellt und aus dem Kabarettisten einen "Kavalleristen" macht, was zum sprachlichen Parforceritt im Lustspielhaus hervorragend passt.

Einen Radunfall kann Malmsheimer so lebendig-comichaft schildern, dass er wie ein Film vorm inneren Auge abläuft. Den darauffolgenden Krankenhausaufenthalt lässt er ins Metafiktionale abdriften, sein "Gesamtwerk" besucht ihn, schmal, wie es ist, sein "persönliches Unvermögen", kurz UV genannt, auch. In der Konfrontation mit beiden erörtert Malmsheimer das Wesen der Kunst, die eben nicht von "Können", sondern von "Gucken kannst" kommt und nichts, aber rein gar nichts in der Welt verändert!

Dem unermüdlichen, bezaubernd mürrischen Sprachkünstler blutet dennoch spürbar das Herz - nach einer Zeit, in der Kunst und Kultur als nicht systemrelevant bezeichnet wurden, von Leuten, die nicht systemrelevant sind. Malmsheimer tut alles dafür, dass man Lust auf weitere Theaterbesuche bekommt.

Dabei tritt er so rasant in die Pedale, dass man beim Zuhören zum Denksportler wird, ab und zu ins Schleudern gerät, begeistert um Atem ringt. Welch furiose Unterhaltung, rigoros sondershausen!

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