Ivor Bolton über "Les Indes galantes" von Jean-Philippe Rameau

Unter Sir Peter gab es Händel satt, aber keine der musikalisch aufregenderen französischen Opern des 18. Jahrhunderts. Schon bei seinem Amtsantritt 2008 kündigte Staatsopern-Chef Nikolaus Bachler eine Oper von Jean-Philippe Rameau an. Nun ist es soweit: Bei den Opernfestspielen kommt am Sonntag im Prinzregententheater die Ballett-Oper „Les Indes Galantes“ heraus. Die Staatsoper setzt auf externe Kräfte, die mit der historischen Aufführungspraxis bestens vertraut sind - darunter den Balthasar-Neumann-Chor aus Freiburg. Ivor Bolton dirigiert das Münchner Festspielorchester, das sich aus internationalen Originalklang-Spezialisten zusammensetzt.
AZ: Herr Bolton, seit Sie 1994 von Sir Peter Jonas an die Bayerische Staatsoper geholt hat, haben Sie an dem Haus ein Originalklang-Monopol. Erstaunt es Sie, dass der jetzige Staatsopern-Intendant in Ihrem Fall auf Kontinuität setzt?
IVOR BOLTON: Nikolaus Bachler heißt mich stets herzlich willkommen, auch wenn er schwerpunktmäßig ein anderes Repertoire pflegt als ich. Die jetzige Rameau-Premiere ist die vierte Neuproduktion in seiner Amtszeit, die ich dirigiere.
Wobei die Ballett-Oper „Les Indes galantes“ eine besondere Herausforderung ist, oder?
Absolut! Auch in Deutschland können sich nicht viele Häuser den Luxus leisten, ein ganzes Orchester mit Originalinstrumenten zu besetzen. Oder einen historisch informierten Chor und ein eigenes Tanzensemble zu engagieren. Das wird ein ganz großes Event. Mit Sir Peter Jonas hatten wir seinerzeit einmal Rameaus „Platée“ geplant, aber leider ging uns das Geld aus.
Welchen persönlichen Bezug haben Sie zu Rameau und die französische Ballett-Oper?
Das begann schon während meiner Zeit als Cembalist. Ich liebe die Gestik dieser Musik. Alles ist sehr brillant und speziell gesetzt, gleichzeitig auch elegant und nobel. Daraus setzt sich die spezifische Dramatik dieser Musik zusammen, ein gewaltiger Elan und Ausdruck, sehr wirkungsvoll. Die einzelnen Tableaus eröffnen zudem den Choreographen und Bühnenbildnern enorme Möglichkeiten.
In dem Werk werden Formen der galanten Liebe außerhalb Europas präsentiert: in Peru, Persien, Nordamerika und in der Türkei. Was will uns das sagen?
Zunächst ist diese Oper Ausdruck einer besonderen Vorliebe der damaligen französischen Kunst für das Exotische. Darüber hinaus schwingt eine Art imperialistische Haltung mit – eine Vorstellung, wie Menschen zu sein haben und sich Verhalten sollten. Das ist nicht nur kulturhistorisch interessant, sondern tangiert meiner Meinung nach auch unsere jetzige Wirklichkeit. Denken Sie nur an die gegenwärtige Flüchtlingsbewegung mit den Diskussionen um Integration und Desintegration. Jedenfalls erlebt man ein großes Spektakel, was wiederum Ausdruck einer selbstbewussten Nation ist. Wie das der Regisseur und Choreograph Sidi Larbi Cherkaoui umsetzt, das wird spannend. Mehr möchte ich nicht verraten.
Darf man bei Musik des 18. Jahrhunderts die Töne vibrieren lassen? Der Dirigent Roger Norrington plädiert für ein striktes „non vibrato“. Was halten Sie davon?
Ich schätze Norrington sehr, aber ich denke, dass diese Position extrem ist. Natürlich ist der Verzicht auf Vibrato ein wichtiges Gestaltungsmittel, aber eben nicht als konstante Komponente des Klangs. Norringtons Position hängt sicherlich mit den Erfahrungen aus dem 20. Jahrhundert zusammen, wo es tatsächlich darum ging, das standarisierte Dauervibrato aufzubrechen. Das Dauervibrato ist ein Phänomen des 20. Jahrhunderts. Noch im 19. Jahrhundert war das anders.
Andererseits gab es im Barock eine Fülle unterschiedlichen Arten von Vibrato bei den Streichern, die gezielt eingesetzt wurden.
Richtig, aber eben ganz gezielt. Das Dauervibrato hat nichts damit zu tun. Der Gebrauch des Vibratos hatte viel mit Affekten zu tun, und das wurde in Schriften auch rege diskutiert. Es geht aber ebenso um Geschmack: Man muss einen Kontext für jedes Mittel entwickeln. Das versuche ich in meinen Aufführungen jeweils zu definieren.
Ist dieser Kontext in Vokalwerken auch eng mit den gesungenen Worten verbunden?
Na klar, mit der jeweiligen Diktion und der Betonung der Silben. Das Vibrato ist eben ein Mittel der Phrasierung und Artikulation. Wir brauchen Orchestermusiker, die den Sängern zuhören, und Sänger, die den Musikern zuhören. Generell bin ich immer wieder überrascht, wie aufgeschlossen die modernen Sinfonieorchester in Zentraleuropa sind. In England ist das Musikleben noch sehr getrennt: auf der einen Seite die modernen Orchester, auf der anderen Spezialensembles für Alte und Neue Musik.
Als Sie aber 1994 an die Bayerische Staatsoper kamen, war der Originalklang hier noch keine Selbstverständlichkeit. War der Widerstand groß?
Einige ältere Kollegen fanden das vielleicht komisch. Aber es gab ein Team von Musikern, die das von Anfang an wollten. Das hat sehr geholfen. Es gab keinen Kampf, aber es musste Überzeugungsarbeit geleistet werden. Schon auf der ersten Kaffeepause haben Musiker mir gesagt: „Bleiben Sie bitte dran, wir unterstützen Sie.“ Wenn man gegen die ganze Welt ankämpfen muss, bringt das nicht viel - weil es nicht die besten Resultate ermöglicht.
Hatten Sie auch die Möglichkeit, mit den Solisten der Produktion von „Les Indes galantes“ am Original-Gesang zu feilen?
Ja, auf jeden Fall! Es sind Sänger dabei, die viel auf diesem Gebiet geleistet haben – mit einschlägigen Erfahrungen. Ana Quintans hat einiges in diese Richtung getan, auch schon mit mir. Dagegen wurde Anna Prohaska nicht zuletzt von Nikolaus Harnoncourt geschult. Vielleicht hat Lisette Oropesa in anderem Repertoire größere Erfahrungen. Sie ist aber sehr aufgeschlossen und neugierig. Um sich auf dieses Projekt vorzubereiten, ist sie extra zu mir nach Salzburg gereist. Wir haben wirklich eine Top-Besetzung mit hochintelligenten Sängern.
Wie erleben Sie die gegenwärtigen Diskussionen um den Brexit in Ihrer Heimat?
Das ist furchtbar, ein Symptom allerdings unserer Zeit. Man könnte über gewisse Gestalten der englischen Politik laut lachen, wenn es nicht so gefährlich wäre. Das Problem ist, dass es in England keine ernsthafte Opposition gibt. Die großen Parteien sind innerlich total gespalten. Wer soll das klassische Parteiensystem noch ernst nehmen? Großbritannien ist weit entfernt davon, ein geeintes Königreich zu sein. Weltoffenheit, Toleranz, Liberalität: Das waren einst große britische Werte. Davon ist nicht viel übrig geblieben. Deswegen lebe ich mittlerweile in Barcelona.
Die Premiere am Sonntag, 26. Juli, 18 Uhr, ist ausverkauft. Sie wird live auf www.staatsoper.tv ins Interet übertragen. Weitere Vorstellungen am 26., 27., 29. und 30. 7., 18 Uhr, Restkarten unter Telefon 2185 1920
Wie sich Rameau von Händel unterscheidet
Georg Friedrich Händel perfektionierte sein Handwerk in Rom. In London komponierte er für importierte Primadonnen und Kastraten, die englische Adelige als Luxus in London auftreten ließen. Händels Opern sind eine lange Folge von Solo-Arien. Weil nichts den Sängern die Schau stehlen soll, ist das Orchester klein.
Im 18. Jahrhundert war dann die Opernwelt zwischen Lissabon und St. Petersburg italienisch. Mit einer Ausnahme: Frankreich. Die adeligen Intellektuellen lehnte einen in Sopranlage singenden Julius Caesar oder Alexander als unwahrscheinlich ab. Kastraten traten in Frankreich nie auf. Singend und tanzend konnte man sich höchstens Nymphen und Götter vorstellen. Deshalb erzählen französische Opern nie Themen aus der Geschichte, sondern ausschließlich Stoffe aus der antiken Mythologie.
Jean Baptiste Lully, der in Florenz geborene Hofkomponist von Ludwig XIV. erfand unter dem Einfluß des Musikgeschmacks seines Chefs die französische Ausprägung der Oper mit kurzen Arien, Chören, Tanzszenen und einer großen Orchesterbesetzung. Jean-Philippe Rameau setzte diese Tradition im 18. Jahrhundert fort.