Kritik

Inspirierend: Das All Abled Arts-Festival an den Kammerspielen

Inklusion im Theater ist nicht nur möglich, sie kann auch richtig Spaß machen
Anne Fritsch |
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Die Darsteller des Berliner RambaZamba-Ensembles in Leander Haußmanns Inszenierung "Läuft!". Am Boden der Schauspieler Samuel Koch. Er verletzte sich 2010 bei "Wetten, dass" schwer und ist seitdem querschnittsgelähmt.
Die Darsteller des Berliner RambaZamba-Ensembles in Leander Haußmanns Inszenierung "Läuft!". Am Boden der Schauspieler Samuel Koch. Er verletzte sich 2010 bei "Wetten, dass" schwer und ist seitdem querschnittsgelähmt. © Andi Weiland

Als Barbara Mundel zu Beginn ihrer Intendanz an den Münchner Kammerspielen verkündete, auch Schauspielerinnen und Schauspieler mit körperlicher und kognitiver Beeinträchtigung fest ins Ensemble zu holen, war das ein Experiment ohne Vorbild im deutschen Theater. Inklusives Theater war und ist bis heute vor allem der freien Szene vorbehalten. Es war ein Schritt, dem das Kammerspiel-Publikum lange - und in Teilen bis heute - skeptisch gegenüber stand und steht.

Das Festival war durchwegs gut besucht.
Das Festival war durchwegs gut besucht. © Julian Baumann

Nun widmete das Theater dem Thema ein langes Festivalwochenende, versammelte eigene Produktionen und solche nationaler und internationaler Verbündeter, rundete das Ganze mit Gesprächen, Vorträgen und Partys ab. Eines war schon beim Blick ins Programm klar: Das eine inklusive Theater gibt es ebenso wenig wie das eine nicht-inklusive Theater.

Hie wie dort gibt es gelungenere und weniger gelungene Produktionen, unterschiedliche Schauspielerpersönlichkeiten und Regiehandschriften, experimentelles Theater und Klassiker-Inszenierungen.

Katharina Bach zerfetzt die Notizen einer Journalistin

Den Anfang machte eine Eigenproduktion der Kammerspiele, "Horror und andere Sachen", bei der zwei Darsteller mit kognitiver Beeinträchtigung die Leitung übernommen haben: Tiziana Pagliaro (Regie und Live-Regie) und Remo Beuggert (Musik und Live-DJ) vom Theater Hora.

Sie spielen mit Zitaten aus klassischen Horrorfilmen wie "Es" oder "Chucky, die Mörderpuppe". Pagliaro leitet ihr gemischtes Ensemble mit und ohne Beeinträchtigung live an zu einer ausgelassenen Stummfilm-Tanz-Performance, lässt sie in verschiedene Rollen von Vampir bis Haifisch schlüpfen und kreiert immer neue abstruse Konstellationen.

"Läuft!" gastierte in den Kammerspielen
"Läuft!" gastierte in den Kammerspielen © Andi Weiland

Dass es hier zu einer Grenzüberschreitung kam, mag möglicherweise der exzessiven Grundstimmung der Produktion geschuldet sein, ist dennoch gerade in diesem sonst so achtsamen Rahmen mehr als schade - und von der Theaterleitung definitiv nicht gewollt und akzeptiert, wie Chefdramaturgin Viola Hasselberg später im persönlichen Gespräch betonte.

Was war passiert? Die Schauspielerin Katharina Bach hatte sich als Spinne durchs Publikum geturnt, vor einer Journalistin - direkt neben der Autorin dieses Beitrags - Halt gemacht und deren Spiralblock so virtuos wie übergriffig in Einzelseiten zerlegt, die sie furios durch den Saal fliegen ließ. Eine Verletzung der Privatsphäre, die schmerzte und die sonst durchgehend angenehme Stimmung überschattete.

Samuel Koch in einer Inszenierung von Leander Haußmann

Das Berliner RambaZamba-Theater, eine Institution im Bereich des inklusiven Theaters, war mit "Läuft!" in der Regie von Leander Haußmann zu Gast, was definitiv ein Höhepunkt war! Ein Parforceritt durch Theater- und Gesellschaftsdiskurse, ein so kluges wie witziges Spiel mit Vorurteilen und Handicaps, dass es einem hie und da den Atem stocken ließ ob so viel unverkrampfter Chuzpe. Da schraubt sich Jonas Sippel als Dramaturg Rainer Werner mit Fassbinder-Allüren in theatertheoretische Höhenflüge. Da wirft sich Karla Sengteller liebestoll auf den hilflos am Boden liegenden Samuel Koch. Da rast dieser in atemberaubendem Tempo mit seinem E-Rollstuhl über die Bühne, fährt Möbel um und schleift seinen Assistenten Robin Krakowski in einem wilden Ritt hinter sich her.

Auch den Schmerz, den eine Behinderung bedeutet, lässt Haußmann nicht aus, zeigt deutlich die Enttäuschung und das Hadern, wenn man von einer Reise nach Italien geträumt hat, letztlich aber in Holland landet. Aber, auch das ein Fazit dieses Abends: Du kannst aus dem, was du hast, das Beste machen.

Es gab eine Show des weltweit ersten Kollektivs von Drag Queens und Kings mit Trisomie 21, dem "Drag Syndrome" aus London. Das Teatr 21 aus Warschau beschäftigte sich in "Libido Romantico" mit der schmerzhaften Frage, wie Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung ihre Sexualität leben dürfen und wollen. Und welche Kluft sich auftut zwischen Selbst- und Fremdbestimmung.

Leichte Sprache hat ihre eigene Direktheit

Die Kammerspiele zeigten Nele Jahnkes "Antigone"-Inszenierung in Leichter Sprache, die anfangs großen Aufruhr auslöste, weil Teile des Publikums eine Art Volksverdummung und allgemeines Absinken des Niveaus befürchteten. Tatsächlich lassen Regie und Ausstattung Luft nach oben, die Leichte Sprache allerdings ist wahrlich nicht das Problem: Sie hat eine eigene Direktheit, die den Konflikt des Dramas hart herausarbeitet. Vor allem aber Johanna Kappaufs Darstellung der Antigone ist mehr als sehenswert.

Auch in Jan-Christoph Gockels "Wer immer hofft, stirbt singend" nach Alexander Kluge macht diese Ausnahme-Schauspielerin deutlich, dass es bei der Inklusion keineswegs nur um ein Sozialprojekt für die Menschen mit Beeinträchtigung geht, sondern dass diese das Theater ungemein bereichern können. Kappauf zuzusehen, wie sie die absurdesten Zirkusnummern ankündigt, vom Zehnmetersprung in einen Wassereimer bis zum Kampf mit dem Haifisch, ist - man kann es nicht anders sagen - ein Moment reinen Theaterglücks.

Inklusion ist ein Menschenrecht

Barbara Mundel formulierte in ihrer Eröffnungsrede "die Vision eines Stadttheaters für Menschen aller Fähigkeiten als Selbstverständlichkeit". Der Weg dahin ist kein einfacher, das zeigt die Erfahrung der Kammerspiele nach dreieinhalb Jahren. Er verlangt Kraft und Geduld. Aber: Inklusion ist ein Menschenrecht. Anders gesagt: Sich für sie einzusetzen, ist die Pflicht einer demokratischen Gesellschaft. Spätestens nach diesem bereichernden Wochenende darf und kann man sagen: Dieses von den Kammerspielen angestoßene Experiment ist die Mühen wert, es ist wichtig und notwendig.

Eine Diskussion mit dem Publikum.
Eine Diskussion mit dem Publikum. © Julian Baumann

Dass es längst nicht an einem Endpunkt angelangt ist, sich noch und vielleicht immer im Stadium des Probierens befindet, hat es mit der Theaterkunst gemeinsam. Theater ist immer ein Prozess mit unsicherem Ausgang. Frei nach Tom Petty, der zu Beginn und am Ende von "Wer immer hofft, stirbt singend" durch den Saal klingt: We're learning to fly.

An diesem Wochenende war durchaus so mancher Höhenflug dabei. Anna Mülter formulierte es in der Podiumsdiskussion so: "Das Münchner Publikum ist privilegiert, das erleben zu dürfen." Vielleicht ist es also Zeit für einen Perspektivwechsel? Einen neuen offeneren Blick?

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