Kritik

"In the Penal Colony" von Phil Glass im Justizpalast

Opera Incognita zeigt die Oper von Phil Glass nach Kafka im Lichthof
Julia Wohlgeschaffen
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Der Offizier (Manuel Kundinger, links) erklärt dem Besucher (Dan Chamandy), wie die Foltermaschine funktioniert.
Opera Incognita 6 Der Offizier (Manuel Kundinger, links) erklärt dem Besucher (Dan Chamandy), wie die Foltermaschine funktioniert.
"In the Penal Colony" im Lichthof des Justizpalasts
Opera Incognita 6 "In the Penal Colony" im Lichthof des Justizpalasts
"In the Penal Colony" im Lichthof des Justizpalasts
Opera Incognita 6 "In the Penal Colony" im Lichthof des Justizpalasts
"In the Penal Colony" im Lichthof des Justizpalasts
Opera Incognita 6 "In the Penal Colony" im Lichthof des Justizpalasts
"In the Penal Colony" im Lichthof des Justizpalasts
Opera Incognita 6 "In the Penal Colony" im Lichthof des Justizpalasts
"In the Penal Colony" im Lichthof des Justizpalasts
Opera Incognita 6 "In the Penal Colony" im Lichthof des Justizpalasts

Die dunkelrote Nadel leuchtet bedrohlich im Lichthof des Justizpalastes. Wie ein Damoklesschwert schwebt das meterlange Requisit an dem Ort, der 1943 Schauplatz der Prozesse gegen die Mitglieder der Weißen Rose war. Heute dient der Justizpalast als Sitz des Justizministeriums und als Gerichtsgebäude – und dieses bayerische Zentrum des Rechts wählte Opera Incognita ganz bewusst für die Aufführung ihrer Neuproduktion: die Oper "In the Penal Colony" des US-Minimalisten Philip Glass aus dem Jahr 2000, basierend auf Franz Kafkas Erzählung "In der Strafkolonie".

Es ist die Münchner Erstaufführung des Werks. Nach dem Passieren der Sicherheitsschleuse am Eingang sitzen die Zuschauer im Halbdunkel auf aneinander gereihten Stühlen, 66 Meter unter der gewaltigen Glaskuppel, durch die am Freitagabend längst kein Tageslicht mehr fällt. Das fünfköpfige Streichorchester unter der Leitung von Ernst Bartmann spielt auf einem Treppenabsatz hinter dem Publikum, die Bühne erstreckt sich am Fuß der Treppe, über der auch die überdimensionale Nadel hängt.

Der Coup gelingt

Außergewöhnliche Spielstätten wie das Müllersche Volksbad gehören zum Konzept der freien Truppe um Bartmann und den Regisseur Andreas Wiedermann. Beide möchten zeigen, dass Oper nicht nur in den eigens dafür errichteten Häusern wirken kann.

"In the Penal Colony" im Lichthof des Justizpalasts
"In the Penal Colony" im Lichthof des Justizpalasts © Opera Incognita

In diesem Fall gelingt der Coup auf phänomenale Weise. Die Oper kommt mit zwei Protagonisten, einem Chor und dem Streichorchester aus. Auch Wiedermann setzt bei seiner Produktion auf Zurückhaltung, zumindest, was die Requisiten anbelangt. Er weiß um die Wirkung der gewaltigen Treppenbauten als Kulisse - und um die der Nadel. Sie steht symbolisch für den Folterapparat, dessen Funktionsweise der Offizier (Manuel Kundinger) einem Besucher (Dan Chamandy) wie im Wahn bis ins kleinste Detail erklärt. Bei dem Bestrafungsritual wird dem Verurteilten, der sein Urteil selbst nicht kennt, das übertretene Gebot mit Nadeln auf den Leib geschrieben, bis der Tod eintritt.

Diese Ausführung der Folter ist die zentrale Handlung der 80-minütigen Oper. Kafkas Erzählung gilt als unausdeutbare Parabel über die Justiz. Die Botschaft der Inszenierung und ihre Symbolsprache hingegen sind eindeutig, wenn der Offizier in blutgetränkter Uniform mit kniehohen Stiefeln und Oberlippenbärtchen die Foltermaschine anpreist, auf die er den Verurteilten – im gestreiften Hemd – schnallen lassen wird.

Unheilbringendes Echo

Michael Kundiger, ein umwerfender lyrischer Bariton, spielt den besessenen Protagonisten mit irrem Blick, Dan Chamandy einen zwiegespaltenen Beobachter. Was die Akustik anbelangt, bewährt sich der Justizpalast. Der Hall in dem neubarocken Prachtbau ist eigentlich keine ideale Grundvoraussetzung für Musiktheater. Hier wirkt er jedoch wie ein unheilbringendes Echo und verstärkt die Wirkung dieser stimmigen Produktion, auch wenn er den Musikern hinsichtlich des Zusammenspiels viel abverlangt – was das Ensemble jedoch problemlos meistert.

Im Hintergrund eilen Aktenträger die Treppen hinauf – es ist ein schneller Aufstieg. Die Stufen sind in blaues Licht getaucht, das der Farbe einer populistischen Partei der Gegenwart verdächtig ähnelt. Durch die unmittelbare Nähe zwischen den Zuschauern und den Darstellern und durch den Justizpalast als Spielstätte verschwimmt die Grenze zwischen Aufführung und Wirklichkeit. Die Zuschauer finden sich mitten im Geschehen und werden zu schweigenden Beobachtern, die obsessiv-fundamentalistischen Züge des Offiziers unterstreicht der Regisseur mit absurd-sakralen Elementen, wenn der Offizier den Verurteilten (Stefan Boschner) in einem Opferritual behutsam wäscht, während der Chor ein Kyrie a cappella singt.

"In the Penal Colony" im Lichthof des Justizpalasts
"In the Penal Colony" im Lichthof des Justizpalasts © Opera Incognita

Wiedermann versteht seine Produktion als eindringlichen Appell an die Stimme der Vernunft in unmenschlich anmutenden Zeiten und möchte mit diesem Projekt gleichzeitig einen Beitrag zum Kafka-Jahr 2024 anlässlich des 100. Todestags des Schriftstellers leisten. Dieser intensive Opernabend wühlt auf und wirkt nach. Genial unangenehm, ein realistischer Alptraum.

Justizpalast am Stachus, wieder am 25., 26. und 27. April, jeweils 20 Uhr (Restkarten ggf. unter muenchenticket.de)

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