In den schönsten Farben
München - Man mag sich fragen, ob diese Performance, wie so manche andere, wirklich in den Jugendstil-Goldrahmen des Schauspielhauses der Kammerspiele gehört. Aber allein schon, wenn man den Blick durch das Foyer schweifen lässt und das vorwiegend junge Publikum sieht, mit einigen versprengten Älteren dazwischen; wenn man sieht, dass hier ein bunt gemischtes Publikum anwesend ist, queer, hetero, geschlechterdivers, dann macht es schon Sinn, dass "Joy 2022" im großen Haus stattfindet.
Ein offenes Theater für alle
Die Kammerspiele als offenes, zugängliches Theater für alle - dieses Versprechen löst sich an diesem Abend auf harmonische Weise ein. Und obwohl es hier um Intimität und Begehren geht, fühlt man sich beim Zuschauen nicht als Voyeur, sondern ist Teil einer Gemeinschaft, die dazu eingeladen wird, in vorurteilsfreier Atmosphäre den Blick sowohl auf die anderen als auch auf sich selbst zu richten.
Sexualität als demokratisches Recht
Nach einem einleitenden, akademisch klingenden Text auf der Soundspur, der einem noch einmal klar macht, dass Sexualität, in welche Richtung sie auch geht, ein demokratisches Recht ist, öffnet sich der Blick auf die Bühne. Das Ensemble blickt ruhig und still Richtung Parkett. Sehen und gesehen werden.
Premiere an den Kammerspielen
Der belgische Choreograf Michiel Vandevelde hat das Stück gemeinsam mit Ensemblemitgliedern der Kammerspiele und Akteur*innen der Sexpositivity-Szene entwickelt. Im Juni wurde es erstmals bei den Wiener Festwochen gezeigt, jetzt folgte die Premiere an den mitproduzierenden Kammerspielen.
Verwunderliche Kritik
In den Kritiken zur Wiener Uraufführung findet man häufiger den Vorwurf, dass die Choreographie arg konfliktfrei ablaufe, was aber angesichts der sexpositiven Ausrichtung des Abends etwas verwundert. Denn in dieser Performance sollen ja gerade nicht Probleme gewälzt werden.
Intime körperliche Annäherungen
Hier geht es um intime körperliche Annäherungen, mal sanft, mal forsch, zu zweit oder in der Gruppe, am Anfang zu pulsierender Elektro-Musik, mit launigen Black-Tape-Fesselspielen und unter dem willkommenen Video-Blick eines Smartphones, später albern-heiter zu Debussys "Prélude à l'après-midi d'un faune" und nochmal später als orgiastische Party mit sehr viel Farbe, die sie danach in aller Ruhe abwaschen.
Verspielte Kostüme
Die Tableaus sind schön anzusehen, die von Vandevelde eingerichtete Bühne mitsamt Drehscheibe wird von Stephan Mariani variabel-stimmungsvoll ausgeleuchtet, die Kostüme von Lila & John sind sexy und verspielt. Das Ensemble changiert zwischen der Konzentration auf das fröhlich-rücksichtsvolle Zusammenspiel und Momenten frontal ausgestellter Grandezza. Einmal schießt eine Nebelschwade herab, umströmt in sinnlichem Rot die fabelhaft glamourös posierende Theresa "BiMän" Bittermann.
"Hast du mich auch wirklich lieb?"
Im Laufe der neun Tableaus gibt es einige hübsche Soli: Jelena Kuljic bringt Erwin Schulhoffs Partitur "Sonata Erotica" von 1919 virtuos und knallkomisch zum Klingen. Die teils vom Notenblatt abgelesene Sprech-Arie besteht aus Seufzern und Stöhnern, wobei es vor allem um das Wirken des "Du"s geht, das vom Ich reguliert ("Nein...doch!) oder angepeitscht ("Schneller…schneller!") wird, bis es nach der Stille (der Orgasmus) zu durchaus essentiellen Fragen kommt: "Hast du mich auch wirklich lieb?"
Recht teuflisch
Klaus Lengefeld erkundet in einem mit "Selbstliebe" betitelten Part seinen eigenen nackten Körper, streichelt, knibbelt und knubbelt ihn von den Armen bis zu den Fersen, um sich dann mittels eines Fuchsschwanz-Plugs in einen tolldreisten Faun zu verwandeln. Ebenfalls recht teuflisch lässt Edith Saldanha eine ins Mikrofon geflüsterte, geschmatzte Rede ins Morbide eines Todeskusses abgleiten.
Ein Hippie-Revival?
Streckenweise hat der Abend etwas von einem Hippie-Revival, Carolee Schneemanns Performance "Meat Joy" von 1964, damals wegen seiner Körperlichkeit ein Skandal, stand unter anderem Pate. Es werden einige Vorbilder zitiert, menschliches Begehren zieht sich ja durch die Zeiten.
Wenn Lucy Wilke und Lotta Ökmen auf einem kreisförmigen Liebesbett zärtlich auf Tuchfühlung gehen, sieht man hinter ihnen ein großes Bild der "Liebenden von Ain Sakhri", einer 11.000 Jahre alten Skulptur, in der ein Paar beim Geschlechtsakt verschmilzt, wobei die Form an einen Penis, eine Vulva oder an Brüste erinnert.
Sexualität - eine Frage der Perspektive
Sexualität ist nun mal eine Frage der Perspektive. Dabei sollten alle Körper und Kombinationen gesellschaftlich akzeptiert und vorbehaltlos möglich sein. Am Ende kommen sie an der Rampe noch mal einzeln zu Wort. Brandy Butler stellt in Frage, ob üppig geformte Venus-Statuen unbedingt als Fruchtbarkeitsgöttinnen gelten müssen oder ob es nicht viel mehr heißt, dass da jemand einen Körper liebte und dementsprechend gestaltete.
"Ich ficke das Patriarchat, aber nicht gratis"
Konstantin Kloppe erkennt die Verzweiflung als Haltung unserer Zeit und sieht in der Freundschaft "die Kraft, die Verzweiflung in Freude verwandelt". Kamill Lippa ermuntert noch einmal dazu, einen positiven Diskurs über Sex zu pflegen. Und Maia Ceres betont, dass sie freiwillig als Escort arbeitet. Ihr Fazit: "Ich ficke das Patriarchat, aber nicht gratis."
Ein einnehmendes Gruppengefühl
Als utopischer Entwurf eines sexpositiven Zusammenseins funktionierte der Abend wunderbar, in den Kammerspielen entsteht ein einnehmendes Gruppengefühl, über die Bühne hinaus. Man fühlt sich gut gewärmt, vielleicht ja auch ein bisschen gewappnet, bevor man wieder nach draußen in die Kälte zieht.
Nächste Vorstellungen: 20. und 21. Januar, sowie 1. Februar, jeweils 20 Uhr, Karten unter 233 966 00
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- Münchner Kammerspiele