Kritik

"Göttersimulation": Im virtuellen Wunderland

Regisseur Emre Akal schickt in den Kammerspielen seinen Vater Erkin und Walter Hess als unwissende Alte in die digitale Welt.
Anne Fritsch |
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Erkin Akal (links), Martha Kamenisch (liegend) und Walter Hess.
Erkin Akal (links), Martha Kamenisch (liegend) und Walter Hess. © Foto: Armin Smailovic

München - Während der Lockdowns musste das Theater einen Weg ins Digitale suchen, nun kehrt der Autor und Regisseur Emre Akal den Spieß um, holt die virtuelle Realität auf die analoge Bühne. "Göttersimulation" nennt er sein Stück, in dem er zwei alte Männer in die digitale Parallelwelt der Jugend abtauchen lässt.

Im digitalen Zeitalter

Diese beiden, Walter Hess und Erkin Akal, treten in gestreiften Hemden von der Seite auf die Vorderbühne, sie stützen sich gegenseitig, die Zeit um sie herum hat sich weitergedreht, vielleicht zu schnell. "Wir sind im digitalen Zeitalter angekommen, oder nein, das digitale Zeitalter ist bei uns angekommen, oder nein, das digitale Zeitalter hat begonnen und wir haben es nicht bemerkt", stellt Hess fest. Der Enkel ist irgendwie "davon geflutscht", seit er ein Handy hat. Das eigene "Früher" ist verschwunden, nicht mehr gültig.

Tod des Analogen

Ein Pfleger kommt und will wissen, ob die beiden "ready to die" seien. Walter hadert, Erkin überredet ihn. Dieser Tod, den sie nun sterben, ist der Tod des Analogen, ein Aufbruch in eine neue Welt. Mit VR-Brillen ausgerüstet übertreten sie die Grenze, treten ein in die virtuelle Realität hinter dem Eisernen Vorhang.

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Virtuelle Landschaften von Mehmet & Kahzim

Und diese ist bemerkenswert! Paula Wellmann, Mehmet & Kazim haben einen Raum entworfen, der links von einem drehbaren verschnörkelten Turm mit verschiedenen Eingängen dominiert wird. Mal Tor zur Hölle, mal Liebesnest. Dazu kommen dreidimensionale Projektionen und Animationen, virtuelle Landschaften, eine Optik wie im Super-Mario-Land 2.0.

Jugendliche sind die Götter

Bevölkert wird diese Welt von den Digital Natives. Acht Münchner Jugendliche zwischen 11 und 18 Jahren verkörpern die Götter und Göttinnen in diesem Universum. Annika Lu Hermann hat sie in grandiose Kostüme (oder eher Skins) gesteckt. Sie sind Avatare ihrer selbst, starke Fantasiegeschöpfe, die ihre körperlichen Unzulänglichkeiten aus der realen Welt hinter sich gelassen haben. Sie sehen aus wie von einem anderen Stern. Und sind es auch irgendwie.

Körperliche Sphäre

Zumindest für Walter und Erkin, die sich in futuristischen Retro-Tennis-Outfits zwischen diesen neuen Wesen wiederfinden und ihre Erlösung doch eher in traditionelleren Göttern suchen. Und es doch "herrlich" finden in dieser körperlosen Sphäre, in der sie sich endlich wieder jung fühlen können. Hie und da bahnt sich die Wirklichkeit ihren Weg ins virtuelle Wunderland.

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Die Wirklichkeit im virtuellen Wunderland

Nervende und schreiende Eltern tönen aus dem Off, stören die Flucht aus dem Kinderzimmer ins digitale Paradies. Ein dreidimensionales projiziertes Auge berichtet von der Geburt des "Kindes", das "etwas in sich, oder an sich hatte, dass es massiv von uns unterschied". Und von dem, was dieses Kind nicht mehr kennt: dem Schnee unter den Füßen, dem Wald, dem Draußen.

Flucht vor einer ungerechten Welt

Im virtuellen Raum müssen sich derweil die Vertreter der alten Welt die Vorwürfe der Jungen anhören. Denn die Flucht ins Virtuelle ist auch die Flucht vor einer patriarchalen, kolonialisierten und ungerechten Welt. So ein Skin ist im Grunde ja nicht mehr als eine andere Haut, in die man schlüpfen kann, wenn einem die eigene zu eng wird.

Die Suche nach Neuem 

"Du hast uns eine andere Welt versprochen, Pippi", schreien sie im Chor ihre Enttäuschung heraus. Einmal stellt eines dieser fremdartigen Wesen Walter Hess diese eine Frage: "Kannst du mir sagen, dass alles gut wird mit der echten Welt?" - Wer könnte das? Und so ist ihre Suche nach Neuem eine nicht komplett unverständliche, selbst für die Alten, die alles andere als Digital Natives sind, Analog Natives quasi. Und die sehr wohl wissen, dass sie Verantwortung tragen. Auch wenn sie diese weit von sich weisen.

Grandiose Optik

Es ist grandios, wie das Team eine digitale Optik im Analogen nachbildet. Ästhetisch ist das eine Meisterleistung. Inhaltlich kann man natürlich sagen: Das Internet ist in Teilen schon etwas düsterer als diese digitale Geisterbahn, da kann auch mehr schiefgehen als ein Schnaps zu viel bei Wahrheit oder Pflicht (ja ohnehin eine sehr analoge Angelegenheit, die hier ins Virtuelle transferiert wird).

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Ein sehenswerter Abend

Der ganz große Erkenntnisgewinn erwächst also nicht aus dieser theatralen Versuchsanordnung. Wohl aber ein sehenswerter Abend, der nachdenklich stimmt und Spaß macht. Allein schon wegen Walter Hess, der sich mit seinen über 80 Lebensjahren eine Offenheit für alles Neue bewahrt hat, die bewundernswert ist. Der hier leichtfüßig durch die digitale Welt tanzt und dabei von den körperlichen Unzulänglichkeiten des Alterns erzählt.

Theaterpreis für Walter Hess

Am Sonntag wurde ihm der Theaterpreis der Stadt München verliehen. Einem "Schauspieler, der sich scheinbar mühelos den unterschiedlichsten Herausforderungen des zeitgenössischen Theaters stellt", so seine Kollegin Annette Paulmann in der Jurybegründung. Herzlichen Glückwunsch!


Wieder am 26. November und 11. Dezember

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