Interview

Generation orientierungslos: "Die Vaterlosen" an den Münchner Kammerspielen

Jette Steckel inszeniert Anton Tschechows "Die Vaterlosen" an den München Kammerspielen. Es wird zum Abgesang auf die Gesellschaft.
Anne Fritsch |
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Carl Hegemann (links), Martin Weigel, Abel Haffner, Wiebke Puls, Joachim Meyerhoff, Edmund Telgenkämper, Bernardo Arias Porras, Walter Hess, Edith Saldanha, Anna Gesa-Raija Lappe, und Katharina Bach spielen in "Die Vaterlosen" an den Münchner Kammerspielen.
Carl Hegemann (links), Martin Weigel, Abel Haffner, Wiebke Puls, Joachim Meyerhoff, Edmund Telgenkämper, Bernardo Arias Porras, Walter Hess, Edith Saldanha, Anna Gesa-Raija Lappe, und Katharina Bach spielen in "Die Vaterlosen" an den Münchner Kammerspielen. © Armin Smailovic

Es ist ihre erste Inszenierung in München – und Jette Steckels erster Tschechow seit dem Studium. Das Stück spielt auf dem Gut von Anna Petrovna, das am nächsten Tag versteigert werden soll. Es ist ein Abgesang auf eine verlotterte Gesellschaft. Wir haben mit Jette Steckel über russische Dramatik in der Zeit des Ukraine-Kriegs und über den zeitlosen Clash der Generationen bei Tschechow gesprochen – und darüber, wo es dann doch einer heutigen Intervention bedarf.

AZ: Frau Steckel, Sie inszenieren zum ersten Mal in München. Wie kam es dazu?
JETTE STECKEL: Ich habe mir immer gewünscht, mal an den Kammerspielen inszenieren zu dürfen. Die Verabredung mit Barbara Mundel ist jetzt schon ein paar Jahre alt. Das damals geplante Projekt ist voll in die Corona-Zeit gerasselt, wurde immer wieder verschoben - und irgendwann abgesagt. Die jetzige Arbeit ist also das Ergebnis eines langen Prozesses.

In dieser Zeit ein Tschechow-Stück zu inszenieren, ist automatisch ein Statement zum Umgang mit russischer Dramatik. Wie stehen Sie dazu?
Die Entscheidung für diesen Text liegt vor dem Beginn des Ukraine-Krieges. Ich habe in meiner Arbeit oft mit dem ex-sowjetischen Kosmos zu tun - die Reibungsfläche zwischen diesen beiden politischen Entwürfen, zwischen dem Westen und dem sogenannten Osten, und die damit verbundenen gesellschaftlichen Auswirkungen, interessieren mich schon lange.

Und ich bin keine Vertreterin des Standpunktes, dass man russische Kultur dezimieren oder von unseren Bühnen eliminieren sollte. Das finde ich die falsche Reaktion. Ich glaube im Gegenteil, dass Kunst Kommunikation ist, und diese ist anzustreben.

Jette Steckel: "Mich spricht die Unbändigkeit und Ungeformtheit von Tscheschow an"

Sie haben sich Tschechows "Platonow" als Ausgangstext ausgesucht. Im Original hat das Stück 20 Figuren und fast 300 Seiten. Eine Aufführung des kompletten Textes würde an die acht Stunden dauern. Hat diese Textfülle Sie gereizt?
Es macht mir schon Freude, wenn ich zusammen mit der Dramaturgie einen Pfad durch so einen Stoff legen kann, aber das war nicht das Kriterium für die Stückwahl. Mich spricht die Unbändigkeit und Ungeformtheit, die dieser erste dramatische Text von Tschechow hat, sehr an. Ich würde ihn übrigens auch komplett machen. Ich bin eine Freundin von langen Theaterabenden, in denen man in einen anderen Zustand kommt. Aber das machen wir jetzt nicht: Wir bewegen uns so bei vier Stunden inklusive Pause.

Sie haben sich entschieden, nicht den bekannten Titel "Platonow" zu verwenden, sondern den Alternativtitel "Die Vaterlosen". Woher kommt der?
Das Stück ist ein Fragment, das erst nach Tschechows Tod gefunden wurde. In einem Brief hat Tschechows Bruder über ein Manuskript mit dem Titel "Die Vaterlosen" geschrieben, das man mit diesem Fragment in Beziehung setzt.

Dieser alternative Titel stellt einem ganz gute Denkaufgaben: Was ist das für eine Generation um Platonow, die das eigene Versagen so stark empfindet, aber aus ihrer Lähmung nicht herauskommt? Was beschreibt das Empfinden der Vaterlosigkeit? Die Diskreditierung der Vergangenheit oder das Gefühl, die von den Eltern geschaffene krisenhafte Gegenwart nicht bewältigen zu können?

"Die Vaterlosen" bei den Münchner Kammerspielen: "Ein Generationennetz aufspannen"

Also liegt Ihr Schwerpunkt in der Dynamik zwischen den Generationen?
Wir versuchen um Platonow herum ein Generationennetz aufzuspannen. Innerhalb des Abends gibt es ein Gesprächsformat, zu dem je ein anderer Gast über 70 Jahre kommt und mit dem Dramaturgen Carl Hegemann spricht. Diese beiden vertreten quasi diejenigen, die auf alles eine Antwort zu haben meinen. Sie werden im Laufe des Abends immer mal wieder in den Vordergrund geholt. Die kompletten Gespräche kann man anschließend in einem Archiv auf der Homepage anhören.

Und vor dem Hintergrund dieser dominanten Elterngeneration scheitern die Nachkommenden?
Im Stück entstammen die Älteren in Vielzahl dem militärischen Kosmos. Das Stück spielt im Haus der Generalswitwe Anne Petrowna. Die Figuren fühlen eine Orientierungslosigkeit und Resignation der Gesellschaft gegenüber. Dahinter steht die Frage: Wer sind wir, wenn wir fühlen, dass unsere Väter oder Mütter nicht als Vorbild für die Gegenwart und Zukunft dienen? Die Generation Platonows befindet sich historisch zwischen dem Krim-Krieg und der Revolution, in einem Zwischenzustand vor dem Neuaufbruch.

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Eine Generation ohne eigene Kriegserfahrung.
Dieses Gefühl lässt sich vielleicht auch auf meine Generation übertragen: Wir haben es mit einer zum Teil bewundernswerten Elterngeneration zu tun, die viele Ideale hat, aber eine Gegenwart erschaffen hat, die nicht unbedingt ihren Zielen entspricht. Dadurch entsteht in dieser meiner Zwischengeneration, wie ich finde, eine gewisse Konturlosigkeit.

Wir stehen zwischen denen, die klar wussten, wofür und wogegen sie eintreten – zum Beispiel gegen eine Elterngeneration, die den Nationalsozialismus hervorgebracht hat – und einer nachkommenden Generation, die neue Ziele hat, zum Beispiel in Fragen der Geschlechter-Gleichberechtigung und des Klimakampfes. Wir sind dazwischen und fragen uns: Wofür stehen wir? Auf der einen Seite sind wir völlig glückliche Nutznießer der Errungenschaften unserer Eltern, auf der anderen Seite schlittern wir in das Zusammenstürzen dieses kurzzeitigen Friedens. Wer trägt die Verantwortung? Wir?

Tscheschow-Inszenierung in München: Bewusstmachung als Ziel

Inwieweit legt sich die Inszenierung fest, wo die Handlung verortet ist?
Wir sprechen nicht explizit aus, wo wir sind. Aber wir versuchen, das Stück auf der Folie unserer hiesigen Gegenwart zu lesen. Das heißt nicht, dass wir eine Überschreibung machen, aber wir gehen aus von einem Bewusstseinsstand, der nicht explizit in Russland verortet ist. Das Ganze beginnt im Zuschauerraum, die Figuren kommen aus dem Hier und Jetzt, sind sehr nah an uns dran.

Die Münchner Kammerspiele spiegeln in ihrem Programm bewusst aktuelle Diskurse, also auch feministische. Wie passt da dieser Platonow als männlicher Protagonist hinein, der ein zumindest zweifelhaftes Verhalten gegenüber Frauen an den Tag legt?
Wir haben am Anfang im Ensemble diskutiert, wie man diese Figur aus feministischen Gesichtspunkten sehen kann. Da bleibt kein Stein auf dem anderen. Aber ich bin keine Freundin des Vermeidens, ich möchte Realitäten abbilden. Natürlich ist es auch ein Weg, bestimmte Vorgänge oder Frauenbilder nicht mehr auf der Bühne zeigen zu wollen und so abzuschaffen. Für mich nimmt das dem Theater sein dramatisches Potenzial. Ich interessiere mich auch dafür, wie es nicht sein soll, also für die Tragödie, und nicht nur dafür, wie es sein sollte. Beide Wege haben dasselbe Ziel: Bewusstmachung.

Regisseurin Jette Steckel: "Ich bin gespannt auf die Begegnung mit dem Münchner Publikum"

Haben Sie ein Beispiel?
Es gibt eine Frau, die von Platonow ungewollt geküsst wird. Das ist in einer konflikthaften Situation, in der ganz klar ist, dass sie das nicht möchte. Bei Tschechow strengt diese Frau einen Prozess gegen Platonow an. Das fand ich extrem modern. Am Ende aber sagt sie ihm, wie sehr ihr das leidtue und dass sie ihn eigentlich liebe. Das fand ich aus dem Kontext unserer Zeit heraus gelesen enttäuschend. Wir haben also die Autorin Katja Brunner einen neuen Text schreiben lassen, der diesen Prozess aufscheinen lässt. Das Jüngste Gericht der Frauen.

"Die Vaterlosen" wurden die ganze Spielzeit an den Kammerspielen angekündigt als die "große Klassiker-Inszenierung" zum Saisonende. Setzt Sie das unter Druck? Was macht diese große Erwartung mit Ihnen?
Nein, ich konzentriere mich nur auf die Arbeit und bin gespannt auf die Begegnung mit dem Münchner Publikum.


Premiere am Samstag, 19.30 Uhr (ausverkauft, evtl. Restkarten an der Abendkasse), weitere Vorstellungen am 5.6., 6.6., 14.6., 16.6., 28.6, 29.6., Karten unter Tel: 233 966 00

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