Fotos mit Vergangenheit: Christian Stückl inszeniert "Bilder von uns" im Volkstheater
München - Zwei Bilder sind gleich am Anfang plötzlich da. Erst wird Jesko Drescher geblitzt, weil er zu schnell fuhr, wenige Sekunden später erscheint ein altes Foto auf seinem Smartphone, das ihn fassungslos macht. Beinahe wäre er in die Schülergruppe gerast, die gerade die Straße überquerte. Jesko, ein bekannter Medienmann, versucht nun, herauszufinden, wer ihm dieses Bild geschickt hat, das ihn als fast nacktes Kind zeigt. Der Bonner Thomas Melle baut sein 2015 uraufgeführtes Stück in den ersten Szenen als einen Psychothriller auf.
Mellers Text wird zum argumentengesättigten Diskurstheater
Jesko beginnt im Kreis seiner früheren Schulkameraden die Nachforschungen und spricht mit Johannes, der Anwalt ist, aber mit der Vergangenheit nichts mehr zu tun haben will. Es gibt Malte, der eine "Werbeklitsche" betreibt, von dem er vom alten Kumpel Matuschka erfährt, der in den USA gerade wegen Besitz von Kinderpornographie zu einer sechsjährigen Haft verurteilt worden ist. Wirklich verdächtig, der Absender zu sein, scheint aber Konstantin, der nie Eingang in die mittelständische Saturiertheit der anderen fand und von den Traumata der Schulzeit im katholischen Internat mit seinen pädophilen Lehrern gezeichnet ist.
Nachts erhält Jesko einen anonymen Anruf und mit der Post ein weiteres Foto aus der Jugendzeit, die Jesko zunehmend auch als "Unfall" empfindet. Dann entwickelt sich Melles Text zum argumentengesättigten Diskurstheater. Mit einem solchen oft unter hohem Druck stehenden Meinungsaustausch zwischen Jesko (Alexander Koutsoulis), Malte (Janek Maudrich) und Johannes (Max Poerting) beginnt Christian Stückl seine Inszenierung von "Bilder von uns" im Volkstheater, eingerichtet in unterkühltem Post-Bauhaus-Schick von Stefan Hageneier.
Der Fiktion liegen historische Vorgänge zugrunde
Erst wenige Tage zuvor hatte der Intendant in der AZ bekannt, selbst ein Betroffener von sexuellen Übergriffen durch einen Lehrer zu sein. Vielleicht traut er deshalb dem Thrillerelement des Stücks nicht und stellt das Reden darüber in den Vordergrund. Erst nach einigem Fortgang springt die Handlung zurück kurz hinter den Anfang. Der Fiktion liegen historische Vorgänge im jesuitischen Aloisius-Kolleg in Bad Godesberg zugrunde, wo bis 2005 über 50 Jahre hinweg Schüler missbraucht worden waren.
Stückl aktualisiert durch Hinweise auf die Vorgänge im Kloster Ettal und bei den Regensburger Domspatzen. Eine Qualität von Spielvorlage und Inszenierung ist, keine Täter oder Taten zu zeigen und sich auch nicht mit der Frage zu plagen, wie es dazu kommen kann, dass strafrechtlich relevantes Handeln nicht von der Staatsanwalt untersucht wird, wenn es von Geistlichen verübt wird. Hier bleiben die Opfer auf sich zurückgeworfen und auch in der Gruppe einsam. Jesko zieht sich, überfordert von den Ergebnissen seiner Recherchen und dem aufgeräumten Pragmatismus seiner Frau Bettina (Henriette Nagel), zurück, Johannes verdrängt weiterhin mehr oder weniger erfolgreich, Malte fordert eine aggressive Strategie in den Talkshows und Konstantin (Jan Meeno Jürgens) erschießt sich.
Dessen Freundin Sandra (Nina Steils) ist dann der Joker für all die Dramen, die da aufgeploppt sind, um in Machtlosigkeit zu erstarren. Den lebenslustigsten Auftritt hat Carolin Hartmann als die aufgekratzte Lehrerin, die Jesko beim Beinaheunfall erstmals getroffen hatte. Gut gelaunt watscht sie die Scheinheiligkeit der Hochkultur ab, plaudert über "Tod in Venedig" und dass sie Thomas Mann einst liebte – "bis ich ihn verstand. Diese Veredlung der niedersten Triebe, diese Perversion im hohen Ton, und alle machen mit, das ganze Land, die ganze Welt, größer als Goethe".
Münchner Volkstheater, 4., 9., 10., 16., 21. April, 19.30 Uhr, Karten unter Telefon 5234655