Kritik

Finsterer Parcours: "Die Verteidigung des Paradieses" in den Kammerspielen

Die Inszenierung nach dem Roman von Thomas von Steinaecker schickt Zuschauende durch den Neubau
Mathias Hejny |
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Nadège Meta Kanku und Sebastian Brandes werden auf die Hütte projiziert, Erwin Aljukic schaut heraus.
Armin Smailovic 3 Nadège Meta Kanku und Sebastian Brandes werden auf die Hütte projiziert, Erwin Aljukic schaut heraus.
"Die Verteidigung des Paradieses" in den Kammerspielen
Armin Smailovic 3 "Die Verteidigung des Paradieses" in den Kammerspielen
"Die Verteidigung des Paradieses" in den Kammerspielen
Armin Smailovic 3 "Die Verteidigung des Paradieses" in den Kammerspielen

Das Paradies liegt auf einer Alm in den bayerischen Alpen. Dort haben sich sechs Personen ein Idyll erschaffen. Aber sie sind keine technologiemüden Aussteiger, sondern Überlebende. Die Katastrophe in einer nicht mehr allzu fernen Zukunft liegt elf Jahre zurück und die ländliche WG ist nur eine Simulation von Zivilisation.

Als der Augsburger Autor Thomas von Steinaecker 2016 den Roman "Die Verteidigung des Paradieses" veröffentlichte, hatte gerade die Debatte um Migration eine neue Dimension erreicht. Dazu kommt das anschwellende apokalyptische Grundrauschen, das die Häufung von Jahrhundertdürren und Jahrhundertfluten in Europa und anderswo verursacht. Auf der Alm und von einem "Shield", der vor tödlicher Hitze schützt, versucht man sich in gemütlicher Runde an die Kanzlerinnen und Kanzler zu erinnern. War da nicht ein Höcke dabei?

Dann bricht die nächste Katastrophe herein, denn der Shield zerbricht und die Drohnen, die bis dahin eine minimale Versorgung sicherstellten, stürzen ab. Es beginnt eine dramatische Flucht ins Ungewisse durch eine zerstörte Welt, bedroht von Mutanten und den Häschern einer mächtigen "Factory", die Flüchtlinge versklavt und verkauft.

Achtung vor Mord, Kindergeschrei und sexueller Gewalt

Regisseur Gernot Grünewald, der mit dieser "Endzeitphantasie" in der Therese-Giehse-Halle sein Debüt an den Kammerspielen gibt, nimmt das Publikum mit auf diese Reise. Die Triggerwarnungen auf dem Programmzettel sind umfangreich. Der Gang durch den Parcours könne jederzeit abgebrochen werden, falls Kindergeschrei, das Fluchtgeschehen, Mord oder Totschlag sowie die Andeutungen sexueller Gewalt oder der Aufenthalt in dunklen und engen Räumen Panik auslösen sollten.

Auch der technologische und personelle Aufwand ist enorm. An der Station "Flucht durch die Große Ebene" ermöglichen VR-Brillen die Illusion, körperlich beim Gang durch eine von Leichen gepflasterte Landschaft anwesend zu sein. Unter Kopfhörern erlebt man an anderer Stelle Teile der Geschichte als Hörspiele, wie "Fenneks Märchen".

"Die Verteidigung des Paradieses" in den Kammerspielen
"Die Verteidigung des Paradieses" in den Kammerspielen © Armin Smailovic

Fennek, der Hofhund der Survivors, ist ein fuchsartiger Roboter mit Empathie-Chip und großer Story-Datenbank. Die Internierung auf dem Frachter "Loreley" auf dem Lac du Rhin erlebt man isoliert als Einzelner in einem bedrückend engen Verlies, aus dem ein geschwätziger Rabbit-Roboter die neuerliche Flucht ermöglicht. Der Ausbruch führt durch neblige Sümpfe, gespenstisch beleuchtet vom Grün der Lampen, die die Rettungswege markieren, bis auf den Einlass für die letzte Episode vor einer Tür mit der Aufschrift "Bühnenprobe 1" gewartet werden muss.

Das ist die prinzipielle Schwäche dieses Konzepts, die Zuschauenden zu Mitwirkenden zu machen. Immer wieder muss der Erzählfluss unterbrochen werden. Die nicht virtuelle Wirklichkeit stört mit den Anforderungen der Versammlungstättenverordnung sowie der Zweckmäßigkeit eines nicht fiktiven Raums, der vor allem Arbeitsplatz für Theaterschaffende ist.

Als das Publikum nur zuschaut, ist der Abend am besten

Deshalb ist die erste Station "Die Alm" der intensivste Abschnitt der knapp zweieinhalbstündigen Performance. Hier agieren Schauspielerinnen und Schauspieler live, deren Spiel für ein davor sitzendes Publikum auf die Wände der Hütte projiziert wird. Das klassische Theater und das gute alte Kino funktionieren trotz der virtuos eingesetzten Hochtechnologie noch sehr zuverlässig als dichtes Medium des Erzählens. Nicht zuletzt ist der Roman mit seinem Genremix aus Science-Fiction, gesellschaftlicher Dystopie und Coming-Age-Geschichte auch ein Bekenntnis zur Kraft der Literatur.

"Die Verteidigung des Paradieses" in den Kammerspielen
"Die Verteidigung des Paradieses" in den Kammerspielen © Armin Smailovic

Der Ich-Erzähler Heinz (Maren Solty) erhält zu seinem 15. Geburtstag von Cornelius (Erwin Aljukic), dem Anführer der Gemeinschaft, Notizbücher, in denen er seine Erlebnisse aufschreiben soll. Heinz, Cornelius sowie das Journalisten-Pärchen Özlem (Natège Meta Kanku) und Chang (Sebastian Brandes), der Ex-Soldat Jorden (André Benndorf) und die alte "Kräuter-Fee" Anne (Luisa Wöllisch) werden als Personen der Geschichte in den Kladden weiter existieren.

Der Heinz, der aus der Zukunft kommt, entdeckt in sich seine Mission als ein Schreibender: "Ich bin der Bewahrer. Ich trage das Erbe in mir".

Kammerspiele, Therese-Giehse-Halle, 9., 12., 13., 16., 17., 19., 25., 27. Juni, ab 18 Uhr. Die Zuschauergruppen werden bis 20.15 Uhr im 45-Minuten-Takt eingelassen. Karten gibt es online und unter Telefon 233 966 00

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