"Einer gegen alle" im Residenztheater: Der Krieg im Frieden

München - Minnie Maus und Micky Maus sind Kinder der Zwanziger Jahre. Walt Disney zeichnete die beiden Turtelmäuschen erstmals 1928. Jetzt blicken sie von einem halbtransparenten Vorhang eng umschlungen und nicht ohne Entsetzen auf die Bühne, wo ein Stück deutscher Geschichte von vor gut 100 Jahren verhandelt wird. Die andere Bilderwelt, die Bühnenbildner Daniel Wollenzin den niedlichen Comicfiguren entgegensetzt, sind Motive von Otto Dix.
Der knöcherne Tod, der sich gierig anschleicht - und im Verlauf des Abends zu einer leuchtäugigen Geisterbahn-Dekoration wird - sowie einer der "Kriegskrüppel" aus der gleichnamigen Druckgrafik passen in ihrem expressionistischen Furor wider den Krieg perfekt zum Antimilitaristen Oskar Maria Graf, der sich 1915 als "Schandfleck der ganzen bayerischen Armee" beschimpfen lassen musste.
Nach 1918 gehörte der Bäckerssohn vom Starnberger See zu denen seiner Zeitgenossen, die zumindest ahnten, dass die Jahre, die dem Ende des Großen Krieges folgen, keine Nachkriegszeit, sondern nur eine Zwischenkriegszeit sein werden. In seinem 1932 veröffentlichten Roman "Einer gegen alle" schildert er farbig und geradezu erschütternd lebendig aus der Münchner Räterepublik und der Weimarer Republik. Im Residenztheater entdeckte man das unbekanntere Werk aus Grafs Schaffen und seine Parallelen zu unseren soeben beginnenden Zwanziger Jahren.
"Krieg aus. Friede überdrüssig"
Der Antiheld ist der traumatisierte Kriegsheimkehrer Georg Löffler, genannt Girgl. Er stammt aus einer Bauernfamilie im Inn-Viertel, findet sich aber im neuen Bayern nicht mehr zurecht.
Er vagabundiert durch das Land, kommt in München bei einer Prostituierten (Myriam Schröder) unter und reist nach Mitteldeutschland, um sich dem kommunistischen Anarchisten Max Hoelz anzuschließen. Schon auf dem Weg dorthin hat er Ärger mit der Polizei und im Vogtland wird er nicht nur Bankräuber, sondern auch zum Mörder. Zurückgekehrt in ein zunehmend von Faschisten beherrschtes München sieht er sich als ein Opfer einer neuen Ordnung und tötet sich selbst mit der Erkenntnis: "Krieg aus. Friede überdrüssig".
Theater und Corona: Seuchenkompatible Inszenierung
Alexander Eisenach, der mit der Graf-Adaption sein München-Debüt gab, geht mit Verweisen auf die wachsende Präsenz Frühlingsluft witternder Rechtspopulisten und Faschisten angenehm sparsam um. Der wutbürgerliche Pegida-Mitläufer scheint einmal während Löfflers Eisenbahnfahrt mit einer klamaukigen Szene mit drei Jägerhut-Trägern auf, deren kaiserlich gezwirbelte Obelippenbärte auf Atemschutzmasken geklebt sind. Die müssen die drei tragen, denn im Zugabteil geht es eng zu.
Auch Eisenachs Lösung für einen Totschlag, den Löffler begeht und der ohne körperliche Nähe nicht funktionieren würde, ist seuchenkompatibel. In blinder Wut zerschmettert er einen Schädel, dessen Part von einer spektakulär zerspritzenden Melone übernommen wird. Um die Nähe des Publikums zum Gesehehen auf der Bühne und hinter den Kulissen kümmert sich Kameramann Oliver Rossol, der castorfesk live in Nahaufnahmen und auf Breitwand überträgt.
Zusammenhänge versickern zwischen den Episoden
Dennoch fällt es schwer, eine Beziehung zu den Figuren und ihren Geschichten aufzubauen. Das hat nicht nur damit zu tun, dass der Girgl dreifach auftritt (Elias Eilinghoff, Christian Erdt, Vincent Glander) und das am Anfang auch noch als Fummeltrinen in dunkel glitzernden Abendkleidern.
Die durchaus wuchtigen Bilder scheinen jeweils isoliert voneinander, erzählerische Zusammenhänge versickern zwischen den Episoden und der Betrachter sitzt leicht ratlos vor einem selbstbewusst lärmenden Behauptungstheater.
Residenztheater, wieder am 12., 16. Oktober, 9. November, 20 Uhr, Karten unter der Telefonnummer 21851940