Kritik

Eine analytische „Chronik der laufenden Entgleisungen“ im Metropoltheater

Im Mahlwerk der Gegenwart: eine bittere Bestandsaufnahme unserer Gegenwart und die Suche nach einem Ausweg
von  Anne Fritsch
Wie die Schauspieler da zusammenrücken auf ihrem Sockel, um nicht vom kreisenden Zeiger der Zeit getroffen zu werden, ist ein starkes Bild.
Wie die Schauspieler da zusammenrücken auf ihrem Sockel, um nicht vom kreisenden Zeiger der Zeit getroffen zu werden, ist ein starkes Bild. © Metropoltheater

"Ich war eigentlich immer froh, wenn ich von Österreich nichts gehört habe und mich niemand genötigt hat, mich damit zu beschäftigen“, schreibt der Autor Thomas Köck. Doch dann ist genau das passiert: Er wurde „genötigt“, sich mit Österreich zu beschäftigen, und das intensiv.

Ein Jahr lang, das Superwahljahr 2023 lang, sollte er genau hinsehen und Buch führen über das, was in seinem Heimatland vorgeht - und was möglicherweise zu Herbert Kickl als erstem rechtsextremen Bundeskanzler in Österreich nach 1945 führen könnte. So lautete der gemeinsame Schreibauftrag von Schauspielhaus Graz und Schauspielhaus Wien.

Was da ablief, übertraf jeden Pessimismus

Köck hat ihn angenommen und Buch geführt. 368 Seiten lang ist seine „Chronik der laufenden Entgleisungen“ geworden, und es ist gut denkbar, dass der Titel von Anfang an klar war. Auch wenn die Fülle an Material dann wohl selbst den eher pessimistischen Autor überrascht haben dürfte.

Nun hat der Regisseur Alexander Weise den Text am Metropoltheater inszeniert, hat ihn auf 60 Seiten und knapp zwei Stunden verdichtet. Und er hat Thomas Köck dazu gebracht, sich noch einmal damit zu beschäftigen: Für diese Deutsche Erstaufführung hat der Autor noch einen Prolog und einen Epilog geschrieben. Das Publikum sitzt auf vier Seiten um eine runde Spielfläche, die Bühnenbildner Thomas Flach ins Zentrum gestellt hat: eine Arena für all die Machtkämpfe, die da vor aller Augen stattfinden. In der Mitte ein Sockel, auf den sich das Ensemble erschöpft niederlassen oder auch mal flüchten kann. Denn in ihm befindet sich ein Mechanismus, der den zu Beginn angebrachten massiven Uhrzeiger bewegt, mal schneller, mal langsamer, mal zurück, meist aber unaufhörlich vorwärts.

Wie die Schauspieler da zusammenrücken auf ihrem Sockel, um nicht vom kreisenden Zeiger der Zeit getroffen zu werden, ist ein starkes Bild.
Wie die Schauspieler da zusammenrücken auf ihrem Sockel, um nicht vom kreisenden Zeiger der Zeit getroffen zu werden, ist ein starkes Bild. © Metropoltheater

Es ist ein einfaches, aber starkes und beunruhigendes Bild: Die Zeit läuft. Unsere Zeit. Die Zeit unserer Demokratie und Freiheit.

Und so ist es schlüssig, dass das Ensemble zunächst im Publikum sitzt: Sie sind wir. Wir sind sie. Wir alle erleben diese Zeit mit, müssen uns ihr stellen. Harald Horvath, Victoria Mayer, Sophie Rogall, Hubert Schedlbauer und Luca Skupin teilen den Prolog unter sich auf, erheben sich nach einander von ihren Plätzen. Köck berichtet vom Aufwachsen als „Arbeiterkind“, von Lehrkräften, die seinen Eltern rieten, ihn vom Gymnasium zu nehmen, von Scham und Wut und dem Gefühl, nicht dazuzugehören. Er spricht von Diskriminierung und Spaltung der Gesellschaft, kommt vom Persönlichen zum Politischen, wenn das nicht ohnehin immer dasselbe ist.

Und dann also die Untersuchung der Gegenwart des Jahres 2023, dessen, was Köck den „Herbertkomplex“ nennt: „die Frage, ob es in Österreich oder anderswo einen rechtsextremen Kanzler geben wird“. Thomas Köck reiht sich ein in die großen Österreich-Untersucher und -Beschimpfer, seine Wort-und Textkaskaden erinnern durchaus an die eines Thomas Bernhard oder einer Elfriede Jelinek. Chronologisch arbeitet er sich durch die Zeit, die stetig fortschreitet und das in eine falsche Richtung. Die Fragen, die über allem stehen: Wer hat die Geschichte so zugerichtet? Wer muss dafür die Verantwortung übernehmen? Und wie soll es weitergehen?

Köck ringt mit dem, was er sieht, sucht Erklärungen und macht es sich so schwer wie das alles ist. In Österreich, in Deutschland, in Europa und der Welt. Wenn eine vermeintliche Antwort im Raum steht, fragt er nach: „Aber ist das jetzt wirklich alles so einfach?“ Er zeigt Missstände auf wie die Statistiken zur Bildung von Kindern aus Arbeiter- versus Akademikerhaushalten und strukturellen Rassismus. Sein Text ist Tagebuch, Erinnerung, Einordnung und Bestandsaufnahme der Gegenwart. Der Autor hadert auch mit sich, mit der eigenen Lebenszeit, die er mit all dem verbringt: „Gestern wieder gedacht, das war jetzt wieder so eine erschöpfende, dumme Idee, ein Jahr lang dem zunehmenden Eskalieren der Töne zuzuhören und den Zusammenhängen nachzuspüren - ich bin schon völlig fertig davon“, heißt es einmal.

Kein Ruck, sondern eine Verschiebung der Werte und Worte

Es geht ihm wie uns: Er rutscht von einer Winterdepression in eine Frühjahrsmüdigkeit, die Nachrichten hören nicht auf, schlechte zu sein. Und obwohl Weise viel gekürzt hat: Die Masse an Text und Daten prasselt auf einen ein, und die Spannung hält sich nicht den gesamten Abend. Das Ensemble ringt unter den Augen und Ohren aller mit diesem Rechtsruck, der kein Ruck ist, sondern eine langsame Verschiebung der Werte und Worte.

Ratos und dann gelingt der Schritt ins Handeln.
Ratos und dann gelingt der Schritt ins Handeln. © Metropoltheater

Wie die Schauspieler da zusammenrücken auf ihrem Sockel, die Beine hochziehen, um nicht vom kreisenden Zeiger der Zeit getroffen zu werden, ist ein starkes Bild für die Hilflosigkeit, mit der wir alle eine Entwicklung beobachten, die Angst macht und hilflos. Natürlich wäre es „toll, wenn man die Zeit, in die hinein man geboren wurde, wieder verlassen könnte, einfach so, nachdem man sich umgesehen hat und alles so gecheckt hat“. Wenn man gecheckt hat, dass das hier nichts wird mit der guten Party.

Aber das geht nicht. Wir müssen da durch. Alle. Was aber vielleicht doch geht, und da lässt Köck dann doch einen Hauch Optimismus zu in seinem Epilog, ist: sich dieser Zeit aktiv entgegenstellen und sie herumdrehen, auch wenns aussichtslos erscheint. Er endet mit den hoffnungsvollen Worten: „Es macht schon auch Sinn, Kunst und alles, gerade hier, gerade jetzt.“

Metropoltheater, jeweils 19.30 Uhr, www.metropoltheater.com

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