Ein Wagner für die Wendezeit?
Nach fünf Jahren Unterbrechung erklingt am Sonntag um 18 Uhr wieder der tiefste Ton, den ein Orchester mit dem im 19. Jahrhundert üblichen Instrumentarium schaffen kann: das Kontra-Es, mit dem Wagners "Rheingold" und damit der Opern-Vierteiler "Der Ring des Nibelungen" beginnt.
Wie üblich gibt es vor diesem Zeitpunkt keine Fotos der Inszenierung von Valentin Schwarz. Und es ist auch eine Bayreuther Tradition, dass sich die Regisseure vor der Premiere nur in allgemeiner Form zu ihrer Arbeit äußern. Schwarz sprach im Februar von einer "vierteiligen Serie", in der man die Mitglieder und ungebetenen Gäste einer Großfamilie von Episode zu Episode verfolge - "mit ihren irritierenden Einsichten und überraschenden Strategien, wie jeder und jede mit dem Unvermeidlichen wie dem Niedergang und dem Tod umgeht."
"Rheingold" in Teaser, der viele Fragen aufwerfe
Das Wort "Serie" provozierte schon vorab das Schlagwort vom "Netflix-Ring", dem Schwarz nicht widerspricht. Das "Rheingold" sei ein Teaser, der viele Fragen aufwerfe und gespannt mache auf das, was da noch komme, auch wenn man vielleicht noch nicht alles sofort einordnen könne. Er wolle den Figuren beim Altern zuschauen: "Eine Welt vergeht, eine neue entsteht. Menschenschicksale in all ihrer Tragik, Komik und mit ihren Träumen, die an der Wirklichkeit zerschellen."
Sicher scheint wohl, dass Schwarz die Handlung in die Gegenwart überträgt. Er wolle von "heutigen Menschen, heutigen Figuren, heutigen Problemen erzählen - und keine von Göttern, Zwergen, Riesen und Drachen", so der 1989 in Oberösterreich geborene Regisseur, der Musiktheater-Regie, Volkswirtschaftslehre und Philosophie in Wien studierte. 2017 gewann er beim internationalen Regiewettbewerb "Ring Award Graz" gemeinsam mit seinem Ausstatter Andrea Cozzi den Hauptpreis - für ein Konzept zu Donizettis "Don Pasquale", das als Koproduktion an der Opéra National de Montpellier und dem Badischen Staatstheater Karlsruhe verwirklicht wurde.
Danach inszenierte Schwarz an der Oper Köln, am Staatstheater Darmstadt, an der Staatsoperette Dresden sowie in Stuttgart und Wien. Wagner ist bisher nicht darunter. Auch wenn der 33-jährige gern von einem Kinderfoto erzählt, auf dem er mit einem Klavierauszug von Wagners "Rheingold" zu sehen sei, während er Georg Soltis legendäre "Ring"-Aufnahme höre, war die Überraschung groß, als Katharina Wagner 2019 den Namen des Regisseurs bekannt gab.
Eigentlich war mit einer Regisseurin gerechnet worden, womöglich sogar mit vieren. Die Festspielchefin gab auf Nachfrage auch zu, mit Tatjana Gürbaca verhandelt zu haben. Die Einigung sei aber an unterschiedlichen Vorstellungen zur Probendauer gescheitert.
Die Inszenierung von Schwarz kommt nun mit zwei Jahren Verspätung und mehrfach umbesetzt heraus. Ursprünglich sollte Günther Groissböck den Wotan singen. Die in Konzerten zu hörenden Ausschnitte schienen höchst vielversprechend, doch der österreichische Bassist gab die Rolle letztendlich zurück. Im Juni sagte John Lundgren ab, nun teilen sich Egils Silins ("Rheingold") und Tomasz Konieczny die Rolle.

Als Dirigent war der Finne Pietari Inkinen vorgesehen, den einige Beobachter für einen "Klangmagier" halten. Seine Bayreuther "Walküre" im Sommer 2021 zu einer Malaktion von Hermann Nitsch rief wegen seiner Tempi im Festspielhaus gemischte Reaktionen hervor: Viele Besucher fanden die Aufführungen lahm, wenige waren fasziniert von der Langsamkeit. Nach einer Corona-Infektion konnte Inkinen nicht mehr die Schlussproben leiten. Daher sprang der Stuttgarter Generalmusikdirektor Cornelius Meister ein, der dafür die Neuinszenierung von "Tristan und Isolde" an Markus Poschner abtrat.

Möglicherweise befindet sich die Inszenierungsgeschichte von Wagners "Ring" wieder an einem Wendepunkt - wie 1976, als sich Stilisierung und Entpolitisierung unter Wieland und Wolfgang Wagner nach rund 25 Jahren erschöpft hatte und durch Patrice Chéreaus kritischen Realismus abgelöst wurde.
Schafft Schwarz den Umschwung?
Der nächste epochale "Ring" ist mit dem Namen des Intendanten Klaus Zehelein verbunden: Er übertrug zur Jahrtausendwende die Stuttgarter Neuinszenierung vier verschiedenen Regisseuren. Diese postmoderne Sicht betonte das Episodische und wirkte lange nach. Auch die anfangs umstrittene und zuletzt gefeierte Bayreuther Produktion von Frank Castorf vom Sommer 2013 gehört in diese Reihe.

Seit dem Zehelein-"Ring" sind wieder 25 Jahre verstrichen. Ob Schwarz - ähnlich jung, ähnlich wagnerunerfahren und ähnlich unbekannt wie vor 46 Jahren Patrice Chéreau - den Umschwung schafft? Bayreuth ist und bleibt für immer der wichtige Ort der Beschäftigung mit Richard Wagner. Aber es hat im Festspielhaus neben Sensationen und soliden Arbeiten wie dem Kupfer-"Ring" auch schon ziemliche Flops gegeben - etwa den Gegen-Chéreau-"Ring" von Peter Hall und Tankred Dorsts todlangweilige Verlegenheitsarbeit.
Am Sonntag gegen 20.20 Uhr, wenn die Götter über die Regenbogenbrücke nach Walhall geschritten sind, wissen wir mehr. Und wenn die Reaktionen kontrovers sind, ist das kein schlechtes Zeichen.
BR Klassik überträgt den "Ring" zeitversetzt aus dem Festspielhaus. Ab Herbst ist der "Ring" online im Stream auf einer neu entwickelten virtuellen Bühne der Deutschen Grammophon zu sehen
- Themen:
- Richard Wagner