Ein Kampf für Menschlichkeit
Als Reaktion auf den Überfall der Hamas auf Israel hat die israelische Dramatikerin Maya Arad Yasur den Monolog "Wie man nach einem Massaker humanistisch bleibt in 17 Schritten" geschrieben. Die Regisseurin Sapir Heller, selbst in Israel aufgewachsen, inszeniert ihn an verschiedenen Theatern in Deutschland. Nach Lübeck, Tübingen und Darmstadt nun am Volkstheater. Im Text heißt es einmal: "Jeder angehende Humanist weiß, dass die Welt kein Süßigkeitengeschäft ist." Im Gespräch erzählt Sapir Heller, wie sie die aktuelle Situation erlebt und was sie sich von diesem Abend und der Gesellschaft erhofft.
AZ: Frau Heller, wie haben Sie von dem Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober erfahren?
SAPIR HELLER: In einem Hotelzimmer in Aschaffenburg, wo meine Inszenierung von Tugsal Moguls "Auch Deutsche unter den Opfern" am Abend zuvor ein Gastspiel hatte. In der Früh um sieben Uhr rief meine Mutter aus Israel an und sagte: "Wir sind in Ordnung." Ich wusste gar nicht, wovon sie redet, also sagte sie, ich solle schnell die Nachrichten anschalten. Dann habe ich das getan und konnte es nicht glauben. Da haben den ganzen Tag über in den israelischen Nachrichten Leute angerufen und Dinge geflüstert wie: "Ich verstecke mich gerade hinter einem Baum, bitte schickt jemanden, der mich rettet. Ich hoffe, ich überlebe diesen Tag." Die sind einfach bei der Polizei und nirgends mehr durchgekommen und haben darum bei den Fernsehsendern angerufen. Das hat man dann live gehört. Ich saß in Aschaffenburg und habe mir das den ganzen Tag angehört. Was das für Konsequenzen für mein Leben haben wird, war mir in diesem Moment noch gar nicht klar.

Wie sind Sie mit diesen schrecklichen Nachrichten umgegangen?
Ich war die erste Zeit wie in einem Schockzustand. Ich hatte an dem Abend noch eine Diskussion in Aschaffenburg über Rechtsradikale, aber mein Kopf und mein Herz waren und sind in Israel. Die nächsten zehn Tage war ich wie gelähmt. Ich lag im Bett, habe geheult, Nachrichten geschaut und mit meiner Familie gesprochen. Das war's. Mehr konnte ich nicht. Da war so ein Ohnmachtsgefühl: Ich bin so weit weg und weiß, dass die Welt untergeht. Und zwar meine Welt.
Wie ist es heute?
Bis heute ist das mein neues Leben. Ich bin ständig in Kontakt mit meiner Familie, habe jetzt angefangen, in Frankfurt zu inszenieren, das normale Leben weiterzumachen. Ich will für meine Familie und meine Kinder einen normalen Alltag schaffen, meinen Sohn zum Fußballtraining bringen oder zum Kindergeburtstag, aber gleichzeitig fühle ich mich nicht ganz hier.
Wie sind Sie aus dieser anfänglichen Ohnmacht wieder herausgekommen?
Irgendwann habe ich angefangen, viele Sachen zu tun. Ich habe mich ehrenamtlich engagiert, mit anderen einen hebräischen Kindergarten für die geflüchteten Kinder eröffnet, habe Abende zum Austausch von Gefühlen organisiert, Treffen mit Therapeuten und Klamotten-Spendeaktionen. In dieser Situation hat Maya Arad Yasur mir ihren Text geschickt. Das war ein Geschenk für mich, weil er mir total aus der Seele spricht. Mir war ganz klar, dass das auf die Bühne muss. Mein Weg, mit schmerzhaften Dingen umzugehen, war schon immer, sie im Theater zu verarbeiten. Und die Nachfrage war sehr groß. Die Leute sind sehr sprachlos ob der Situation - und Maya hat so tolle Worte für unseren inneren Kampf als Gesellschaft gefunden.

Im Text heißt es einmal: "Es ist leicht, Humanist zu sein, wenn du auf die Ereignisse aus sicherer Entfernung blickst." Das trifft sehr genau die Hilflosigkeit, die man empfindet.
Natürlich möchten wir humanistisch sein. Aber es ist nicht leicht. Natürlich möchte ich an die Mutter auf der anderen Seite der Grenze denken. Aber es ist nicht leicht. Humanistisch zu bleiben, ist gerade ein Kampf. Diesen Kampf sieht man bei der Performance auf der Bühne.
Gleichzeitig klingt der Titel des Textes fast wie ein Rezept zur Überwindung des Hasses, sehr hoffnungsvoll. Haben Sie noch Hoffnung?
Man muss Hoffnung haben, sonst können wir nicht weitermachen. Aber es ist schwer. Ich hatte von Anfang an das Gefühl, wir werden mit diesem Text eine Reise machen. Nicht nur eine Reise durch Deutschland, sondern auch eine innerliche Reise. Die Begegnungen und die Reaktionen der Leute zu erleben, darin liegt für mich die Hoffnung. Der Abend ist ein Impuls, sich zu trauen, etwas zu sagen. Jeder muss etwas sagen für die Menschlichkeit. Du musst dich gar nicht politisch positionieren, aber du kannst dich bei Leuten melden und fragen, wie es ihnen geht. Es hilft, wenn man nicht allein gelassen wird und Menschen hinter einem stehen.
Gibt das Sicherheit?
Mir kam irgendwann in den letzten Wochen der erschreckende Gedanke: Es gibt keinen Fleck auf der Erde, an dem ich mich sicher fühlen kann. In Israel überhaupt nicht. Und in Deutschland momentan auch nicht. Keine dieser Veranstaltungen kann ohne Security und Polizei stattfinden. Die einzige Sicherheit für mich sind gerade die Menschen, die sich melden und Solidarität mit mir zeigen. Nicht mit Israel. Da geht es nicht darum, ob man für oder gegen Siedlungen ist. Sondern darum, dass man diese Massaker nicht relativiert. Natürlich kann man gleichzeitig Mitleid empfinden mit den Unschuldigen im Gaza-Streifen. Ich habe das.

Das ist dieses Gefühl, dass es nur ein Entweder-Oder gibt, dass man sich entscheiden muss. Man kann aber auch beides schlimm finden.
Genau. Ich hoffe, dieser Abend ist ein Impuls, sich mit der Menschlichkeit zu solidarisieren, nicht mit einer Partei. Und das erwarte ich von der Gesellschaft, in der ich lebe.
Im Anschluss an die Aufführung gibt es jedes Mal ein Gespräch mit dem Publikum.
Genau. Diese Gespräche sind von Theater zu Theater sehr unterschiedlich. Mal geht es um den Begriff Humanismus, mal um die Reaktionen in der Kulturwelt und mal konkret um Antisemitismus. Am liebsten wäre es mir, wenn dieser Abend nicht mit dem Applaus endet, sondern dass er Impulse setzt und es danach weitergeht, die Leute mit anderen Gedanken nach Hause gehen. Wenn jemand danach zu mir sagt, ich werde mich bei meinen Freunden melden, dann freut mich das sehr. Wenn sie spüren, dass es für die Betroffenen existenziell wichtig ist, dass sie nicht ignoriert werden und der Gesellschaft nicht egal sind. Auch wenn es kitschig klingt: Wir brauchen versöhnlichere Messages, ein Zusammenhalten. Die "Bösen" sind immer am lautesten, darum müssen die "Guten" auch laut sein. Wir müssen auch präsent sein, nur so können wir die Mehrheit sein.
Eine Art Lovestorm entfachen.
Ja! Voll die schöne Beschreibung.
Sie exponieren sich sehr, wo viele andere sich zurückziehen. Haben Sie keine Angst?
Doch, habe ich. Aber es ist mir wichtig, dass es nicht dabei bleibt. Es hilft mir nicht, wenn alle betroffen sind davon, dass Juden Angst auf der Straße haben. Es geht um die Verantwortung der Gesellschaft, dass niemand in Angst leben muss. Diese Verantwortung ist aktiv, die Angst passiv. Und ich möchte aktiv sein. Wir alle müssen aktiv bleiben, damit es ein Lovestorm und kein Shitstorm wird.
Münchner Volkstheater, Samstag, 16. Dezember, 20 Uhr, Performance und Gespräch
- Themen:
- Hamas
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