Kritik

"Dr. Nest" im Prinzregententheater: Wir alle haben doch einen Vogel

Aber muss jeder Tick geheilt werden? Die Maskenspieler der Familie Flöz bezauberten mit "Dr. Nest" im Prinzregententheater.
Michael Stadler |
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Um Himmels Willen, die kippen einem ja gleich aus den Galoschen: Familie Flöz bei dem einfühlsamen Dr. Nest.
Um Himmels Willen, die kippen einem ja gleich aus den Galoschen: Familie Flöz bei dem einfühlsamen Dr. Nest. © Valeria Tomasulo

Zu Beginn tragen die Schauspieler keine Masken, das Publikum aber sehr wohl. Zumindest zum Teil, denn einige Zuschauer haben sich im Prinzregentheater dazu entschieden, trotz der neuen Corona-Vorschriftslockerungen ihre FFP2-Maske zu tragen. Andere verzichten auf den Mundschutz. Wie man seine Freiheiten nutzt, ist jedem selbst überlassen.

"Dr. Nest" erinnert einen an so manche Isolationserfahrung der letzten Zeit

Ganz frei und den Gesichtern frische Luft gönnend bewegen sich die fünf Darsteller der Familie Flöz durchs Parkett, einer verlangt wild berlinernd nach den Tickets, eine andere hält eine Puppe wie ein Baby im Arm. Alle sind weißgekleidet und wirken etwas überdreht oder verhuscht. Die psychiatrische Anstalt, in der die Flöz-Produktion "Dr. Nest" spielt, umfasst den gesamten Raum. Sind wir nicht alle ein bisschen verrückt?

Die Corona-Zeit hat uns jedenfalls alle etwas kirre gemacht. Das zweitägige Gastspiel der an der Folkwang-Universität der Künste in Essen gegründeten, in Berlin ansässigen Meister des Maskenspiels sollte bereits vor zwei Jahren stattfinden, aber wurde wie so viele andere Termine pandemiebedingt verschoben. Ein wenig mag man jetzt bei "Dr. Nest" an manche Isolationserfahrungen und melancholische Seelenzustände erinnert werden, die einem der Virus beschert hat.

Setting in geschlossener Anstalt

So wirkt der titelgebende Arzt immer wieder ein bisschen traurig und einsam, zum Beispiel wenn er alleine auf einem Krankenhausbett sitzt, den Blick nach vorne auf sein bewegtes Inneres gerichtet. Die Anstalt, in der er als Neuzugang ankommt, ist eine geschlossene.

Durch die hohen Fenster im Hintergrund sieht man nur schemenhaft die Außenwelt. Immerhin: Die Ärzteschaft und die Patienten bilden automatisch eine Art Gemeinschaft, wobei auch optisch eine klare Trennungslinie zwischen ihnen verläuft.

Wer den Kittel trägt, hat die Autorität

Klar, Kleider machen Leute, markieren den Status. Noch bevor sie die Familie-Flöz-typischen, großen Pappmache-Masken tragen, spielen die fünf Darsteller ein virtuoses Spiel mit einem weißen Kittel. Wer den Kittel trägt, hat die Autorität. Also streben sie alle danach, ihn zu tragen und finden geniale Möglichkeiten, ihn in einem Schwung von einem Körper zum anderen zu wechseln. Schwuppdiwupp, schon hat der oder die nächste die Weisungsmacht.

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Die Ärzte kann man dabei auch als Erwachsene ansehen, die allein per Fingerzeig bestimmen können, wo es lang geht, während die Patienten etwas von Kindern haben, die sich entweder gehorsam fügen oder doch viel lieber aus der Reihe tanzen, womit sie ihre Eltern wiederum in verzweifelte Bewegung bringen. Wer hat eigentlich die Kontrolle?

Die Fäden in der Hand als Regisseur und Maskenbauer hatte bei dieser Produktion Familie-Flöz-Gründungsmitglied Hajo Schüler, aber man kann davon ausgehen, dass die fünf auf der Bühne stehenden Ensemblemitglieder der internationalen Truppe - Fabian Baumgarten, Anna Kistel, Björn Leese, Benjamin Reber und Mats Süthoff - am Entstehen der Figuren und Situationen starken Anteil hatten.

Verwirrender Figurenreigen zu Beginn

Von psychiatrischen Fallstudien aus haben sie dieses Stück entwickelt und fitzeln zunächst mal einen etwas verwirrenden Figurenreigen zusammen. Zu viele Szenen spielen sie an, lösen sie allzu schnell wieder auf, lassen noch einen und noch einen Charakter auftreten, dass man sich erstmal - mit Absicht? - etwas verloren beim Blick auf diese Anstalt und das naturgemäß wortlose Maskenspiel fühlt.

Zudem öffnen sich offenbar Erinnerungsräume beim lautlosen Verschieben der Bühnenelemente, eine Mädchenfigur entlockt dazu am Bühnenrand dem Theremin geisterhafte Klänge.

Dr. Nest entpuppt sich als empathischer Arzt

Indem er seine neue Stelle antritt, lässt Dr. Nest wohl auch ein von Trauer belastetes Leben hinter sich, schleppt folglich selbst psychischen Ballast mit sich herum. Nach einiger Zeit bilden sich aber doch Handlungsfäden, alle Typen sind dann eingeführt, die Ärzte und vor allem die Patienten. Zum Beispiel der handfeste, wie ein Hausmeister wirkende Typ, der ständig zwei Bongos mit sich herumträgt und mit ihrer Hilfe kommuniziert, den Rhythmus angibt. Oder der hibbelige Musiker, der mit weitschweifender Gestik herumschwirrt, aber beim Klavierspiel zur Ruhe kommt. Oder die Dame, die ständig mit Klinikbettwäsche in ihrer Armbeuge herumläuft und so tut, als wäre es ein Baby.

Nach und nach kommen sie zu Dr. Nest, der sich im Gegensatz zu seinem eher halsstarrigen Kollegium als empathischer Arzt entpuppt und sich um eine jeweils passende Therapie bemüht. Wenn der Bongo-Mann auf trockenem Boden anfängt, Schlittschuhfahren zu simulieren, gerät auch Dr. Nest ins Sliden. Mit dem Klavier-Genie greift er gemeinsam in die Tasten und findet für manches Problem sogar manche Lösung.

In der Anstalt findet der Doktor selbst ein Nest 

Wunderbare Nummern entstehen dabei, etwa, wenn ein Patient zu ihm kommt, der ohne seinen Besen zum wackelnden Gliedermännchen wird. Zunächst ersetzt der Arzt den Besen durch einen Stift, den der Patient als Ersatzstütze in der Hand hält. Dann nimmt er den Stift weg und lenkt die Aufmerksamkeit auf einen Zeigefinger, auf zwei Zeigefinger! Bis der Mensch für sich stehen kann.

Heillos chaotisch wird es, wenn gleich mehrere Patienten sich lustvoll auf den Boden fallen lassen. Da kann der Arzt doch nicht alle auf einmal auffangen. Aber sie stürzen ganz famos, landen gekonnt, keiner verletzt sich.

Ob jeder Tick, jede Verrücktheit wirklich der Korrektur bedarf, stellt dieser Abend lebhaft und launig in Frage. Und im Kontakt mit seinen seltsamen Patienten findet Dr. Nest womöglich auch für sich etwas Heilung. Am Schluss warten alle darauf, dass vielleicht ein Vogel in ein hohes, aus Holz gebautes Häuschen fliegt. In der Anstalt hat der Doktor dabei selbst schon ein Nest gefunden.

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