"Don Giovanni" in Salzburg: Ein Fest der Maßlosigkeit
Salzburg - Ehe die erste Note erklingt, wird eine Kirche geräumt. Man holt Heiligenfiguren aus ihren Nischen, hängt die Gemälde ab, fährt die Bänke raus.
Barockes Welttheater und die faustische Sicht auf "Don Giovanni" erleben Renaissance
Das Kruzifix aus der Werkstatt Giottos über dem Altar wird später durch einen Basketballkorb ersetzt. Dann fährt eine Kehrmaschine herum, und der von Metaphysik gereinigte Raum kann besenrein dem Rationalismus übergeben werden.
Dass derlei des Satans sei, deutet eine durchlaufende Ziege an. Natürlich gibt es in Romeo Castelluccis Salzburger Neuinszenierung von Mozarts "Don Giovanni" am Ende Mächte, die größer sind als der zerstörerische Individualismus der Hauptfigur, die zwar "Viva la Libertà" singt, dabei aber eine Puppe zerschlägt, während sich die Bühne in eine konsumkritische Müllhalde verwandelt. Zuletzt löst er sich im Weiß der Bühne auf, während sich die Überlebenden in pompejanische Gipsleichen verwandeln und ein von Mozart nicht vorgesehener Chor den Schlussgesang anstimmt.
Wenn nicht alles täuscht, gehören auch Büsten der Festspielgründer Max Reinhardt und Hugo von Hofmannsthal zu dem Zivilisationsgerümpel, das beim Fest Don Giovannis herbeigeschleppt wird.

Sie hätten es mit Wohlgefallen aufgenommen, dass zum heuer weitergefeierten 100-jährigen Jubiläum der Festspiele das barocke Welttheater und die faustische Sicht auf Mozarts Oper ihre Renaissance erfahren.
Castelluccis Bildertheater bespielt die Breitwandbühne mit Bravour
Das ist keine Frage von richtig und falsch, von zeitgemäß oder veraltet. Im Großen Festspielhauses gibt es dazu keine vernünftige künstlerische Alternative. Castelluccis Bildertheater bespielt die Breitwandbühne mit Bravour.

Es ergänzt kongenial den Ansatz des Dirigenten Teodor Currentzis, dessen musicAeterna Orchestra zwar auf Nachbauten alter Instrumente spielt, aber einen hochromantisch-subjektiven Interpretationsindividualismus kultiviert, der mit historischer Aufführungspraxis allenfalls eine Zurückhaltung beim Vibrato und eine maximale künstlerische Nervosität gemeinsam hat.
Extreme Verlangsamung und allerlei romantische Drücker gab es auch schon beim späten Harnoncourt. Dazu passt, dass die vorphilologische Mischfassung mit den beiden Ottavio-Arien und Elviras "In quali eccessi, o Numi" gespielt wird. Sie verschiebt das Gleichgewicht von der historischen Gattung Opera buffa in Richtung Seria. Das Komische interessieren weder Castellucci noch Currentzis, und wo es sich gar nicht vermeiden lässt, wird es ins Groteske verzerrt.
Currentzis holt aus dem Orchester eine unglaubliche Klangfülle heraus
Nach der Höllenfahrt setzen beide eine beifallheischende Zäsur, so dass die von der romantischen Aufführungstradition verachtete Scena Ultima wie ein bloßes Anhängsel wirkt. Donna Anna und Ottavio kosten ihr Duettino außerdem in einer Weise aus, dass der eine oder andere Festspielbesucher mit Blick auf die Uhr befürchtet, das geplante Diner müsse wegen aufgehobener Reservierung ausfallen.
Currentzis holt aus dem Orchester eine unglaubliche Klangfülle und Klanggewalt heraus. In Umbauten gibt es Kammermusik. Nichts ist lauwarm, alles ist entweder brühend heiß oder eiskalt.
Dirigent und Regisseur fühlen sich in Maßlosigkeit pudelwohl
Ein wild improvisierendes Hammerklavier würzt den Klang mit Chili-Soße. Wenn in Arien der A-Teil wiederholt wird, pfeffern die Sänger mit manierierten Verzierungen nach. Gewiss: Der apollinische Mozart ist mausetot. Aber Currentzis steigert den Dionysos-Kult in eine Raserei, die das Affektierte streift.
In einer so faszinierenden wie auch teilweise abstoßenden Maßlosigkeit fühlen sich Dirigent und Regisseur pudelwohl. Gleich am Anfang fällt ein Auto krachend aus dem Bühnenhimmel, später folgt ein Klavier, auf dessen Ruine Don Giovanni und der zwillingshafte Leoporello scheinbar ihre Rezitative begleiten.
Bekannte Starsänger werden nicht vermisst
Die Körperfeier der 100 schreitenden Salzburgerinnen (Choreografie: Cindy Van Acker) streift das Kunstgewerbe. Aber Castellucci rettet sich in die performative Ästhetik seiner Societas Raffaello Sanzio, etwa beim Einsatz von letztlich unkontrollierbaren Tieren oder der Komtur-Szene, wo sich Davide Luciano als Don Giovanni nackt in weißer Farbe wälzt.
Unter den Sängern sind keine bekannten Stars, aber die vermisst auch keiner. Vito Priante (Leporello) und sein Chef ähneln sich auch vom Stimmtypus wie eineiige Zwillinge. Nadezhda Pavlova und Federica Lombardi streifen koloratursicher die Sphäre des romantischen Belcanto, Michael Spyres singt den Ottavio mit Kraft und Stimmkultur. Anna Lucia Richter wird als Zerlina in der Inszenierung ein Fleisch mit Masetto (David Steffens). Nur Mika Kares (Komtur) fehlt es für das aus dem Orchester gesungene Finale bei aller Detailkultur ein wenig an Kraft.
Musiktheater ist eine Form mit einem maximalen Reichtum an Möglichkeiten
Einen Tag nach dem norwegischen Regionalkrimi in Bayreuth nimmt man das rückhaltlose Bekenntnis zum Ritual und zur Lust der Körper in dieser Aufführung mit Befriedigung zur Kenntnis. Musiktheater ist eine Form mit einem maximalen Reichtum an Möglichkeiten. Dass Castellucci als Papst des Performativen in üppigstem Prunk seinen Theatersubjektivismus auslebt und gleichzeitig den Individualismus und das Uneigentliche als Ende des Metaphysischen verdammt, nimmt man als aufgeklärter Katholik ohne Verwunderung zur Kenntnis.
Denn solche Widersprüche gehören zu dieser sehr speziellen Kultur, und Salzburg und seine Festspiele sind der wahre Ort, sie genussvoll und unter maximaler Verschwendung aller Ressourcen zu leben.
Wieder am 29. Juli sowie am 4., 7., 10. und 20. August im Großen Festspielhaus. Die Aufführung ist am 7. August um 22.05 Uhr auf ORF 2 und Arte zu sehen.