Countertenöre vor Ruinenlandschaft: Die Oper "Drei Schwestern" von Péter Eötvös bei den Salzburger Festspielen

Nach Moskau kommt hier keiner mehr. Die Eisenbahnlinie zwischen den beiden Tunnelöffnungen ist zerstört. Jede Verbindung zum Sehnsuchtsort der „Drei Schwestern“ scheint abgerissen. Die von Betontrümmern erfüllte Felsenreitschule kennt außerdem keinen Ausweg. Das unterstreicht eine der drei Frauen am Ende noch unmissverständlich, wenn sie ein Tor auf eine der Wände malt.
Das passt nur bedingt zu der 1998 in Lyon uraufgeführten Tschechow-Vertonung des Komponisten Péter Eötvös. Die beginnt mit einem Akkordeonsolo voller Melancholie und Abschied. Diesen Grundton behält die Oper bei und steigert ihn ins abstrakt Allgemeine, indem sie das Theaterstück postdramatisch in Sequenzen zerlegt und postmodern durch die Besetzung aller weiblichen Rollen mit Männern weiter verfremdet.
Derlei ist maximal ästhetische Kunst-Kunst. Weil derlei Künstlichkeit aber zur Form und Tradition der Oper passt, wurden die „Drei Schwestern“ in den vergangenen Jahrzehnten zu einer der meistgespielten Gegenwartsopern zwischen Hamburg, Brüssel, Zürich, Wien, Buenos Aires und Jekaterinburg, obwohl für die drei Schwestern drei Countertenöre aufgeboten werden müssen.
Russifizierung einer modernen Oper
In Salzburg wurde die Oper nun von Evgeny Titov inszeniert, der in München zuletzt „Le nozze di Figaro“ in eine Cannabisplantage verlegte. Der primär im Schauspiel erfolgreiche Regisseur erweist sich auch in der Felsenreitschule nicht als Mann subtiler Wirkungen. Er hat dieser zeitlosen Melancholie- und Schmerzstudie in der Felsenreitschule alle opernhaften Nuancen ausgetrieben, um wieder einmal die hoffnungslose Geschichte der russischen Misere zu erzählen.

Die haben Besucher der Salzburger Festspiele bereits voriges Jahr in Mieczyslaw Weinbergs „Der Idiot“ und Sergej Prokofjews „Der Spieler“ am gleichen Ort zweimal abendfüllend kennengelernt. Und das wirkt bei aller Liebe zum Dialog mit der russischen Kultur langsam etwas viel.
Auf der Bühne brechen wieder einmal die letzten Tage der Menschheit an. Die bei Tschechow operettenhafte Gegenwart von Militär in der Kleinstadt wird hier – ziemlich erwartbar – ins Katastrophale gesteigert. Der Tunnelmund auf der rechten Seite spuckt blutige Verwundete aus. Beim in der Oper dreimal aus verschiedenen Perspektiven geschilderten Stadtbrand denkt der Zuschauer unweigerlich an die russischen Luftangriffe auf zivile Ziele in der Ukraine, obwohl die Kostüme historisch bleiben (Ausstattung: Rufus Didwiszus, Emma Ryott).

Titov hat Tschechows Zeitdiagnostik direkt und plump aus dem Reclamheft in einen gegenwärtigen Katastrophenraum versetzt, ohne besonders auf die Musik zu hören. Bezeichnend dafür ist, dass er sich für fluide Geschlechter überhaupt nicht interessiert: Die Sänger treten simpel in Frauenkleidern des 19. Jahrhunderts auf. Und das steht quer zu Eötvös’ verfeinertem Glasperlenspiel, das in der Uraufführung russlandfrei von einem japanischen Butoh-Spezialisten auf die Bühne gebracht wurde.
Jammern ist nicht abendfüllend
Was sich in der Felsenreitschule jenseits der Betontrümmer abspielt, bleibt psychologisch konventionell wie im Moskauer Künstlertheater. In Titovs frisch russifiziertem Tschechow begegnet man wieder einmal den üblichen Schwätzern, Besoffenen und vergeblich Liebenden der russischen Literatur, die zu träge sind, um für ihre Gefühle zu kämpfen. Neu ist allenfalls, wie der Regisseur betont, dass diesen Egomanen jede menschliche Empathie fehlt, wenn Alte, Kranke und Katastrophenopfer unbeachtet über die Bühne schlurfen.

Die russische Originalsprache, bei Eötvös eine weitere Ebene der Verfremdung, verwandelt diese Aufführung weiter in ein russisches Selbstgespräch in russischer Sprache. Erinnerungen an das Drama und die Übertitel vermögen das Verständnis zwar zu fördern, aber sie verstärken auch eine emotionale Distanz zu den Figuren. Daher schwindet das Interesse von Sequenz zu Sequenz. Denn Leute, die zwei Stunden ununterbrochen jammern, sind weder im Privatleben noch auf der Bühne sonderlich interessant.
Hinzu kommt, dass sich die Charakterisierung einzelner Figuren durch begleitende Instrumentalsoli im Programmheft zwar reizvoll liest, aber abgesehen vom eindringlichen Trompetensolo im Finale blass bleibt, weil die überbreite Felsenreitschule niemals ein Ort für feinere musikalische Schattierungen werden wird. Das kaum variierte langsame Grundtempo strapaziert die Geduld, und das fehlende Chiaroscuro dramatischer Kontraste ist auch keine Stärke der Partitur.
Die Countertenöre faszinieren
Aber der 2024 im Alter von 80 Jahren verstorbene Komponist wucherte in „Drei Schwestern“ auch mit seinem Pfund: Er konnte, ohne seine Verwurzelung in der Avantgarde der Neuen Musik im Umfeld von Karlheinz Stockhausen und Pierre Boulez im Mindesten zu leugnen, wunderbar für menschliche Stimmen schreiben. Die Terzette der Countertenöre faszinieren in ihrer herben Süße. Und wie in den aktuellen Salzburger Vivaldi- und Händel-Aufführungen darf man hier staunend bewundern, wie sich die Gesangskunst durch die Verbindung von alter und neuer Musik verfeinert hat.

Weder Cameron Shahbazi (Mascha) noch Aryeh Nussbaum Cohen (Olga) lassen sich bei unangenehmen metallischen Härten oder gequetschten Tönen erwischen. Die Stimme von Dennis Orellana (Irina) klingt so rund nach Mezzosopran, dass man den schlanken Sänger im strahlend weißen Kleid lange tatsächlich für eine Frau halten könnte.
Die weitere Besetzung mit Jacques Imbrailo (Andrej) und Mikolaj Trabka (Tusenbach) hält da mühelos mit. Das auf der Bühne unter der Leitung von Alphonse Cemin spielende zweite Orchester des Klangforums Wien zeigte sich erst beim Schlussapplaus: Es wirkt mehr als Klangkulisse und sängerfreundliche Verstärkung des von Maxime Pascal straff geleiteten Ensembles im Graben.
Beckett ohne Witze
Das alles ist von höchster musikalischer Qualität, aber als humorbefreiter russischer Beckett auch ein wenig zäh. Irgendwann arbeitet sich eine Figur aus dem Fettleib seiner Existenz heraus und steht dann mehr oder weniger nackt da, ohne dass das irgendetwas bei ihr oder dem Zuschauer ändern würde. Und so denkt man sich, leicht angeödet: West- und Mitteleuropa haben eigene Probleme, die auf Salzburgs Bühnen derzeit kaum eine Rolle spielen.

Wieso sollten uns innerrussische Identitätsprobleme derart massiv beschäftigen? Hilft es wirklich, die Auflösungsschmerzen des sowjetischen Imperiums auf Individuen und ihre Psychologie zu reduzieren?
Daher eine herzliche Bitte an unsere russischen Freunde: Macht eure Seelennöte unter euch aus. Und kommt wieder, wenn eure Selbsttherapie einen wesentlichen Schritt weitergekommen ist. Weniger Nabelschau und mehr Politik könnte dabei auch nicht schaden.
Wieder am 12., 21. und 14. August in der Felsenreitschule. Restkarten unter salzburgfestival.at