"Chicago" auf der Freilichtbühne Augsburg: Ein fideles Gefängnis

Gaines Hall inszeniert das Musical "Chicago" auf der Freilichtbühne in Augsburg.
von  Wolf-Dieter Peter
Nicht nur die Bühne von Harald B. Thor für die Augsburger "Chicago"-Produktion ist ziemlich spektakulär.
Nicht nur die Bühne von Harald B. Thor für die Augsburger "Chicago"-Produktion ist ziemlich spektakulär. © Jan Pieter Fuhr

Evangelikaler Puritanismus und sexy Genderei; dumpfbackiger Provinzialismus und weltweit leuchtende Unterhaltungskultur; schießwütiger Waffenwahn und großartige Rechtsphilosophie. Genau diese Widersprüche Amerikas greift das Musical "Chicago" am Beispiel der "windy city" in den 1920er Jahren auf. Das Staatstheater Augsburg meldet sich damit auf der Freilichtbühne am Roten Tor aus der Corona-Pause zurück.

Es ist ein realer Fall, dessen Zeitungsbericht erst Dramatiker Maurine Watkins, dann Broadway-Größen wie Fred Ebb und Bob Fosse inspiriert hat: Da erschießt dieses nach einer Star-Karriere süchtige blonde Girlie namens Roxie Hart einen ihrer Liebhaber. Im Gefängnis trifft sie auf eine organisiert-korrupte Frauen-Subkultur und den geldgierig bedenkenlosen Anwalt, der mit "All that Jazz", mit allerlei miesen Tricks erst die sensationsgeile "öffentliche Meinung", dann die Geschworenen dazu bringt, seine Mörderinnen frei zu sprechen, so dass alles in "Isn't it good - grand - great - swell - fun?" auf der Bühne und "all that Jazz" endet, unter der Regie von Gaines Hall.

Viel aber nicht voll: Ausgeklügelte Bühnenarchitektur

Der erfahrene Bühnenarchitekt Harald B. Thor wusste mit dem weiten, baumumstandenen Areal etwas anzufangen: die Schießschartenfenster der Festungsmauer griff er in einem Halbrund mit neun Gefängniszellen zweistöckig übereinander auf, die durch kleine Lichtwechsel zu Showbühnen für die unter dem Gefängniskittel recht verführerische Dessous tragenden Insassinnen. Davor kreiste Thors große Drehbühne und bot Tribüne, Schreibstube und Anwaltsbüro. Auf der rechten Bühnenhälfte führte eine breite Showtreppe nach vorne. Daneben drehte sich noch eine kleine Bühne für ein vielfach genutztes Boudoir oder zweites Anwaltsbüro.

Damit war die Bühne nicht etwa vollgebaut - vielmehr blieb vor all dem eine bühnenbreite Spiel- und Tanzfläche. Damit begann auch eine der Wirkungsschwächen: dieser vordere Bereich wurde zwar mehrmals vom gesamten Ensemble für die "Shimmy"-tanzverrückten Chicagoer und vor allem die zur Zirkusnummer entlarvte Gerichtsverhandlung (Kostümwirbel: Aleksandra Kica) genutzt, doch sie weckte den Wunsch nach einer zahlenmäßig größeren Truppe und rückte viele der Spielszenen zu weit und ausstrahlungsärmer "nach hinten".

Etwas zu wenig Druck beim Sound - aber beeindruckende Performance

Hinzu kam, dass die Sound-Mannschaft den auf Abstand sitzenden Tribünenbesuchern zwar erfreulicherweise kein Rockkonzert-Dröhnen zumutete, aber gerade in den großen Tutti-Nummern doch etwas zu wenig Sound gab und auch etliche Mikrofonwechsel noch nicht so recht klappten. Auch Licht-Meister Marco Vitale dürfte mit mehr und gerne auch mal grellen Lichtspielen den Abend "vitalisieren". Deswegen sollte alles, auch das musikalische Grundtempo ein bisschen zulegen.

Ein matter Abend also? Nein, dafür legten sich Katja Berg (Roxie), Sidonie Smith (Velma), Alexander Franzen (Billy) und stellvertretend für alle anderen auch Marianne Larsen (Aufseherin), Pascal Herington (Amos) und Chris Kolonko (Travestie von Society-Reporterin Mary Sunshine) viel zu beeindruckend ins Zeug.

Roxies dümmliche Promi-Sucht, Velmas brüchiges Star-Image, die "Cellophan-Durchsichtigkeit" des schlichten Roxie-Ehemanns Amos, die grelle Überdrehtheit des Conférenciers (Cedric Bradley) und der ätzend offengelegte Zynismus von Rechtsverdreher Billy - die Gebrochenheit all dieser Glamour-Figuren blitzte auf. Justin Pambianchi leitete vom Keyboard aus die "Swing"-Besetzung der Augsburger Philharmoniker mit der Folge "Fuß-Mit-Klopfen" - und unter einem heiter-wohlwollenden Himmel, angenehmen Temperaturen und am Sitzplatz maskenfrei atmend saß man "endlich wieder im Theater" - Thanks!


Bis 31. Juli auf der Freilichtbühne am Roten Tor. Karten unter www.staatstheater-augsburg.de

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