Bernard-Marie Koltes „Rückkehr aus der Wüste“ - die AZ-Kritik
Bernard-Marie Koltès „Rückkehr aus der Wüste“ erweist sich beim Wiedersehen im Residenztheater als Stück der Stunde
Abweisend erhebt sich ein Gemäuer, das so aussieht, als könne es in den trockenen Gegenden Nordafrikas stehen. Alexander Müller-Elmau spielt im Residenztheater mit seinem Bühnenbild das Spiel weiter, das schon der Autor Bernard-Marie Koltès spielte.
Der Schauplatz von „Rückkehr in die Wüste“ ist nicht sandige Ödnis, sondern – auch, wenn der Ort nie namentlich erwähnt wird – die mittelgroße Stadt Metz im Nordosten Frankreichs an den grünen Ufern der Mosel. Später öffnet sich die Mauer und ermöglicht den Blick auf das unübersichtliche Innere des Hauses, für das freilich das Adjektiv „wohnlich“ nicht erfunden wurde.
Das Haus gehört der Fabrikantenfamilie Serpenoise und wird bewohnt von Adrien, seiner Gattin Marthe (Barbara Melzl) und seinem Sohn Mathieu (Thomas Lettow). Nun – man befindet sich irgendwann kurz nach 1960 – kommt nach 15 Jahren Adriens Schwester Mathilde mit ihren unehelichen Kindern Fatima (Mathilde Bundschuh) und Edouard (Max Koch) hinzu.
Hauen und Stechen
Sie hatten es sich in Algerien eingerichtet, mussten die französische Kolonie aber wegen des Krieges verlassen. Ein Hauen und Stechen über das familiäre Erbe hebt ebenso an wie zwischen Eltern und Kindern, Cousinen und Cousins, Frauen und Männern und nicht zuletzt auch Europäern und Afrikanern. Frankreichs Belebung, so wird Koltès im Programmheft zitiert, „kommt durch die Gegenwart der Schwarzen und der Araber. Sie kommt nicht aus dem tiefsten Frankreich, das eine Wüste ist.“ In seiner Fülle von Motiven und Formen gehört das Werk zum Besten, was die französische Dramatik in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts zu bieten hat. Zur Renaissance des Rassismus in ganz Europa ist der fast 30 Jahre alte Text das Stück der Stunde.
Leicht macht es der Autor allerdings nicht. Diese Rückkehr aus Algerien ist reich instrumentiert mit Vielem zwischen lähmender, tiefster Trauer und angriffslustigem Witz. Zum Familienporträt im Strindberg-Modus kommen Momente von Gothic Horror, wenn Adriens erste, aber vor langer Zeit unter ungeklärten Umständen gestorbenen Ehefrau im Garten spukt oder des Surrealen, wenn der im Provinznest verzweifelnde Edouard sich von dieser Welt einfach wegzaubert.
Boulevard
Vor allem aber spielte Koltès hier wie in keinem seiner anderen Stücke mit der Tradition des Boulevards. Das erste Aufeinandertreffen der Geschwister Serpenoise nach 15 Jahren liest sich so schlagfertig wie ein Feydeau. Den liefern mit einem frech direkten Zugriff auf ihre Figuren immer mal wieder Juliane Köhler und Götz Schulte als die sich herzlich hassliebenden Geschwister Serpenoise.
Aber Regisseurin Amélie Niermeyer wagte dann doch nicht etwas mehr zwischen Komödie und Farce. So entwickelt sich ihre Inszenierung mit wenig Fallhöhe zum bitteren Kern insbesonders vor der Pause mit Tiefe vortäuschenden Sprechpausen zäh.
Das erzählerische Schleppen wird verstärkt durch den exotisch klagenden, auch faszinierend klingenden Soundtrack, den die Musikerin Elisabeth Wirth auf einer Paetzold-Flöte, einer frauhohen Bassblockflöte, live herstellt. Im zweiten Teil zieht der gut zweieinhalbstündige Abend an Spannung spürbar an, wofür am Premierenabend mit lang anhaltendem und sehr herzlichem Applaus gedankt wurde.
Residenztheater, wieder am 1., 19. Juni, 3., 13. Juli, 19.30 Uhr
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