Atemlos durch die Nacht im Volkstheater

Claudia Bossards sehr freie Adaption von Nikolai Erdmans "Der Selbstmörder" im Volkstheater.
von  Michael Stadler
Auf geht's an den Wannsee: Alexander (Janek Maudrich), Aristarch (Silas Breiding), Kleopatra (Jan Meeno Jürgens) und Margarita (Nina Steils, von links) auf Spritztour.
Auf geht's an den Wannsee: Alexander (Janek Maudrich), Aristarch (Silas Breiding), Kleopatra (Jan Meeno Jürgens) und Margarita (Nina Steils, von links) auf Spritztour. © Gabriela Neeb

Ein bisschen Zigarettenrauch auf der Bühne hat noch nie geschadet. Im Volkstheater, auch im herrlichen Neubau, kann man das immer auch als kleine Hommage an den genussqualmenden Intendanten Christian Stückl verstehen. Aber vor allem erzeugt das Schmöken eine Atmosphäre der Gelassenheit, die sich mitsamt dem Nikotingeruch ins Parkett verbreiten könnte.

Und steckt im Rauchen nicht auch eine leichte Todessehnsucht, Mensch, ist es gar eine kleine Vorstufe zum Suizid?

In ihrer sehr eigenen Interpretation von Nikolai Erdmans Stück "Der Selbstmörder" lässt Claudia Bossard ihr Ensemble jedenfalls ausgiebig am Glimmstängel ziehen. In einer Reihe stehen sie kurz nach Beginn des Abends da, wirken mit ihren tiefen Augenringen, den langen Haaren und abgefuckten Kleidern wie eine Gruppe Hippies, total fertig mit dem Leben, oder eine Heavy-Metall-Band, die nach einem exzessiven Gig eine Runde im Hinterhof pafft.

Der Bühnenboden sieht dementsprechend nach After-Show-Party aus: Rote Pappbecher und Schnipsel liegen verstreut herum. Was für ein Schmutz.

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Antiheld mit Heißhunger auf Leberwurst

Nikolai Erdmans Stück beginnt spät nachts, jedoch in der Zweisamkeit einer Wohnung. Seinen Anti-Helden, Semjon, packt der Heißhunger, weshalb er in die Küche schleicht, wo er eine Leberwurst verspeisen will.

Seine Frau Mascha erwischt ihn dabei, macht ihm eine Szene, bei der auch Semjons Arbeitslosigkeit, sein Gefühl der Wertlosigkeit zur Sprache kommt. Weil sie sich nicht verstehen, also missverstehen, glaubt Mascha am Ende des Disputs, dass Semjon sich selbst umbringen möchte.

Die Kunde seines geplanten Suizids macht sich erst in der Folge breit, aber bei Claudia Bossard gibt es keine Privatsphäre, sondern alle sind schon irgendwie präsent auf der weitschweifig-vielschichtigen Bühne. Elisabeth Weiß hat ein chaotisches Papp-Biotop mitsamt einem schiefen, blauen Häuschen als Ego-Rückzugsgebiet, einer schrägen Stange in der Luft für Erhängungsversuche und vielen weiteren, auch im Hintergrund lauernden Überraschungen eingerichtet.

Die Leute aus dem Umfeld von Semjon (Lorenz Hochhuth) und Mascha (Carolin Hartmann) latschen ungeniert am Rand oder mitten durch den Dialog, was auch das Pärchen nicht stört. Zudem wird das Bühnenportal als riesige Projektionsfläche für Live-Videobilder genutzt: Die Community drängt sich immer wieder im Bühnen-Off vor eine Kamera, stiert in die Linse, was so aussieht, als ob sie zuschauen und belauschen, was da vorne abgeht.

Original von Stalin zensiert

Das hat mehr mit heutigen Insta-Stories als mit dem Russland Stalins zu tun, in dem Erdman lebte. Die Uraufführung des Stücks wurde 1933 nach der Generalprobe verhindert, weil die Zensurbehörden gerade noch kapierten, dass Erdman den Sozialismus durch den Kakao zieht.

Der kleine Narziss Semjon zählt nicht als Individuum, sondern ist Verfügungsmasse einer Gesellschaft, deren Interessengruppen, von der Kirche bis zur Intelligenzija, ihn und seinen Suizid für ihre Zwecke instrumentalisieren möchten.

Erdmans satirische Komödie wurde dann erst 1969 in Schweden uraufgeführt und ist gerade wieder auf deutschen Bühnen en vogue, weil der Stoff gut in unsere Gegenwart der prekären Existenzen, Selbstdarsteller und raubtierkapitalistischen Ausbeuter passt.

"Wo lebst du denn?", fragt Semjons Freund Alexander (Janek Maudrich) und gibt gleich selbst die Antwort. "Im einundzwanzigsten Jahrhundert. Im Zeitalter der Digitalisierung. Der Globalisierung. Und der absoluten Freiheit."

Dass sie sich die absolute Freiheit genommen hat, Erdmans Satire in die Jetztzeit zu transportieren, macht Claudia Bossard in fast jeder Zeile ihrer Stückfassung deutlich.

Die kaputte Truppe pflegt einen lässigen Slang, gespickt mit englischen Phrasen ("boys don’t fucking cry!") und Versatzstücken aus der postmodernistischen Sprachecke. "Ich bin ein Wiedererkennungsmerkmal für Zukunftsverlust, für die unendliche Strapazierung des synchronistischen Bewusstseins", sagt Semjon und meint es ernst damit.

Möchtegern-Hamlet mit Krone

Als Möchtegern-Hamlet mit Krone tritt Lorenz Hochhuth auf, studiert Shakespeares Sätze – "Sein oder Nicht-Sein – aus dem gelben Reclam-Heftchen und macht als Ich-ich-ich-Narziss doch einen sehr munteren, gar nicht lebensmüden Eindruck.

Alles, was mit Narzissmus und (Frei-)Tod zu tun haben könnte, fahren Bossard und ihr Team auf. Goethes "Werther" ist ebenso eine Referenz wie die Selbsttötung von Heinrich von Kleist 1811 am Kleine Wannsee. Für die Langhaar-Gang ist das Anlass genug, mit dem Auto eine launige Spritztour an den Wannsee zu unternehmen und dabei auch an den Doppel-Suizid von Hitler und Eva Braun zu denken.

Vielleicht nimmt Claudia Bossard da den sensationsgeilen Selbstmord-Tourismus aufs Korn, vielleicht lässt sie auch den Assoziationen einfach freien Lauf.

Dass die Live-Musikerinnen Alice Peterhans und Anna Tropper-Lener, unterstützt von Silas Breiding am Klavier, ein geigenveredeltes Instrumental von "Atemlos durch die Nacht" spielen, hat mit Erdmans Stück gar nichts zu tun, sondern wohl damit, dass Helene Fischer im Video zum Song erst alleine, dann mit ihren Girlfriends von einer Party zur nächsten fährt und zwischendurch genauso verschwörerisch in die Kamera blinzelt wie das Alice Peterhans im Nonnenkostüm am Steuer des Bühnenautos tut.

Frei rotierende Revue mit Schlagereinlage

Zu diesem Zeitpunkt hat Bossards Inszenierung sich längst von den Fesseln der Vorlage befreit und sich zu einer frei rotierenden Revue entwickelt, bei der Nina Steils den österreichischen Schlager "Zruck zu dir" so beherzt performt, dass sie einen wohlverdienten Szenenapplaus kassiert.

Als Margarita trifft Steils insgesamt einen wunderbar komödiantischen Ton zwischen Unterschichts-Schnoddrigkeit und überraschend bildungsbürgerlicher Gelehrtheit: Die Frau weiß Bescheid. Und komplettiert eine Reihe witzig überzeichneter Typen, die sich von irgendwelchen Todesaussichten nicht die Laune verderben lassen.

Jan Meeno Jürgens etwa, der ernst leidende König Edward II. aus Stückls erster Inszenierung an neuer Spielstätte, ist als "Kleopatra" eine Diva mit komischer Grandezza – die Dame möchte, dass Semjon sich ihretwegen umbringt, weil das ihre Chancen auf dem Liebesmarkt steigern könnte.

Aber: Am Ende stirbt nicht Semjon, sondern jemand anderes. Wer, ist letztlich wurscht, leberwurscht in dieser Inszenierung, die an jeder Todtraurigkeit und dramatischen Tiefe unbeschwert vorübersegelt, um als zitatenreicher Spaß zu unterhalten. So einen jugendlich rasenden Applaus hat man schon lange nicht mehr bei einer Premiere gehört. Danach wurde ausführlich gefeiert und getanzt, während einige entspannt Zigarette rauchend in der Kälte standen, draußen im schönen Hof des neuen Volkstheaters.


Volkstheater: Nächste Aufführungen am 14. und 28. November 2021, 19.30 Uhr, an der Tumblingerstraße 29, Karten gibt es unter Telefon 089 523 46 55

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