Angemessen durchgeknallt
MÜNCHEN Die Idee klingt verlockend. Einfach mal Winterschlaf halten, sich ein paar Monate der Außenwelt komplett entziehen, all den schlechten Nachrichten, den beruflichen und privaten Anforderungen, dem Stress. Stattdessen: durchschlafen. Die namenlose Protagonistin in Ottessa Moshfeghs Roman "Mein Jahr der Ruhe und Entspannung" aus dem Jahr 2018 tut genau das.
Zunächst versucht sie, aus freien Stücken möglichst viel von Tag und Nacht zu verschlafen, doch weil der Mensch für gewöhnlich eben keinen Winterschlaf hält, befriedigt sie ihr Schlaf-Wach-Rhythmus nicht.
Sie ruft die einzige Psychiaterin in New York City an, die an einem Dienstagabend um 23 Uhr ans Telefon geht - und landet bei der obskuren Dr. Tuttle, die ihre Aufgabe darin sieht, möglichst großzügig Psychopharmaka an ihre Patientin zu verteilen.
Regisseurin Katharina Stoll hat sich diesen so faszinierenden wie durchgeknallten Roman nun als Vorlage für ihre Inszenierung am Volkstheater genommen. Wicke Naujoks und Anna Wörl haben einen strahlend weißen Kubus in die Bühne zwei gebaut, eine Projektionsfläche oder eine Kunstgalerie. In eben so einer jobbt die Erzählerin, sitzt gelangweilt am Empfang und wundert sich über ihre nervige Chefin und den Künstler Anton Kirschler, der Kunstwerke aus toten Hunden produziert. Die Protagonistin, gespielt von Liv Stapelfeldt, wirkt hier fehl am Platz. In dieser cleanen Welt ist sie mit ihrem Whoopi-Goldberg-T-Shirt, Radlerhosen und Marge-Simpson-Frisur eine Außenseiterin. Sie verachtet, was sie umgibt: die artifizielle Kunstwelt ebenso wie ihre magersüchtige Freundin, ihren (Ex-)Freund und ihre verstorbenen Eltern, in deren Leben Platz für vieles war, nicht aber für ihre Tochter. Sie will das alles nicht mehr, flieht in den Schlaf: "Es gibt nichts zu erledigen, nichts zu kompensieren, weil da einfach nichts ist. Es ist ein wunderbares Gefühl, fast wie Glück."
Eine großartige Performance
Wie ein Alien, das zufällig hier gelandet ist, liegt Liv Stapelfeldt zu Beginn mit ihrer Bettdecke im leeren Raum, verloren, aus Raum und Zeit gefallen. Ihre Anspannung wird körperlich, sie tigert herum, stalkt ihren Ex mit zunehmend psychotischen Anrufen, tanzt auf Drogen beziehungsweise Medikamenten wild durchs Stroboskoplicht und bricht immer wieder zusammen, lallt "Mir geht es nicht so gut", wird bewusstlos. Eine großartige Performance!

Um sie herum spielt Ruth Bosung die Freundin, die sich mit beeindruckender Konsequenz an ihre Freundin schmiegt, im Grunde aber nur um ihre eigenen Themen kreist (ihre Figur, ihre sterbende Mutter, ihre ungewollte Schwangerschaft). Als ihre Freundin ihr von ihrem Plan berichtet, mittels harter Betäubungsmittel drei Monate lang komplett abzutauchen, ist sie zwar kurz besorgt, zieht dann aber gerne mit all den irdischen Besitztümern von dannen, die ihr überlassen werden.
Sex mit einer Bewusstlosen
Pia Amofa-Antwi spielt Dr. Tuttle, diese komplett abgedrehte Psychiaterin, die der Meinung ist, dass "eine Menge psychischer Krankheiten in öffentlichen Verkehrsmitteln übertragen werden". In einer der zahlreichen surrealen Szenen stimmt sie von der Galerie aus "I will follow him" an und motiviert das restliche Ensemble nicht weniger zur kollektiven Ekstase als einst Whoopi Goldberg in "Sister Act".
Alexandros Koutsoulis übernimmt alle männlichen Rollen vom Exfreund, der gerne nochmal zum Sex mit der Bewusstlosen vorbeikommt, bis zum Künstler Anton Kirschler, dem sich die Ruhesuchende schließlich komplett überlässt: Er muss dafür sorgen, dass immer eine Pizza bereit steht, wenn sie alle drei Tage aufwacht. Dafür dürfe er ihr Schlafprojekt nach Belieben künstlerisch ausschlachten, dürfe mit ihr machen, was er wolle.
Ein überwältigender Abend
Katharina Stoll hat ein durchweg starkes und überzeugendes Ensemble versammelt und einen faszinierend irritierenden Abend inszeniert, der reich ist an Witz und skurrilen Szenen. Das Handeln der Protagonistin motiviert die Regisseurin stärker psychologisch, als der Roman es tut. So werden die verstorbenen Eltern, die immer wieder wie Plastik-Zombies in Glitzergewändern über die Bühne ruckeln, präsenter als mögliche Ursache für die Weltflucht.
Auch kommt der über allem stehende Schlaf an diesem Abend ziemlich wenig zum Zug: Wieviel sie schläft, schon bevor sie komplett abdriftet, wird nicht erzählt. Fast könnte man glauben, hier leide jemand tatsächlich unter Schlaflosigkeit. Die Parameter verschieben sich also vom Roman zum Stück ein wenig. Macht aber nichts, so lohnt die Lektüre des Buchs auch nach diesem rauschhaften, schauspielerisch überwältigenden Abend.
Volkstheater, wieder 30. September und 19., 21. Oktober, 2. und 3. November, Karten: muenchener-volkstheater.de
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