"Am Kältepol" nach Warlam Schalamow

Es ist der größtmögliche Gegensatz. Hier das Cuvilliéstheater – Rokoko, Mozart, satte Menschen auf gepolsterten Stühlen, höchste zivilisatorische Verfeinerung. Auf der Bühne Hunger und Kälte, ein Gulag in der hintersten Ecke Sibiriens, das „Auschwitz ohne Öfen“, wie es die Überlebenden nannten.
Sechs Erzählungen aus den „Geschichten aus Kolyma“ von Warlam Schalamow hat der russische Regisseur Timofej Kuljabin für das Staatsschauspiel auf die Bühne gebracht. Der Titel des Abends, „Am Kältepol“, ist im meteorologischen wie im übertragenen Sinn zu verstehen: Menschen sind nur Verbrauchsmaterial in einem Bergwerk am Ende der Welt. Sie werden geschlagen und bestohlen, sie verstümmeln sich selbst, essen einen Hund und graben nachts eine Leiche aus, um sich deren Unterwäsche anzueignen.
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Lässt sich das auf die Bühne bringen? Letzte Zweifel vertreibt diese Inszenierung nicht. Aber wenn, dann so, wie hier im Cuvilliéstheater. Auf der Bühne steht ein Regal mit Requisiten. Sechs Schauspielerinnen lesen nacheinander die Geschichten, deren Handlung wortlos in einem uneinsehbaren Container nachgespielt und auf eine Leinwand darüber übertragen wird.
Dreifache Verfremdung
Gleich zu Beginn bekommt ein Häftling von seiner Familie Stiefel geschickt. Die verkauft er sogleich, weil sie im Lager als unangemessener Luxus gelten. Die Nahrungsmittel aus dem Paket werden ihm gestohlen, und als er die kümmerlichen Reste seiner Dörrpflaumen kochen will, zerstört die Wachmannschaft das Geschirr. Ein anderer Häftling, der Holz holen wollte, wird so sehr verprügelt, dass er bald danach stirbt.
Die dreifache Verfremdung durch eine Offenlegung der Spielsituation, Videos und eine weibliche Besetzung rückt die Handlung zugleich in die Ferne und an den Zuschauer heran. Zerbrechendes Holz und dumpfe Schläge genügen, um diese Welt absoluter Hoffnungslosigkeit darzustellen, in der nicht einmal dem Mithäftling zu trauen ist.
Einen Moment kehrt so etwas wie Heiterkeit ein, wenn Männer auf einem Außenposten einen Dosenturm bauen. Aber gleich danach hängt sich einer auf, und ein zweiter verstümmelt sich mit einer Axt und zieht sich damit ein Verfahren wegen Sabotage zu.
Objektiverende Kälte
„Der Mensch wurde innerhalb von drei Wochen zur Bestie – unter Schwerarbeit, Kälte, Hunger und Schlägen“, wie es bei Schalamow heißt. Nora Buzalka, Sibylle Canonica, Pauline Fusban, Anna Graenzer, Hanna Scheibe und Charlotte Schwab verschwinden hinter zerschlissenen Mützen und Jacken. Sie spielen die lemurenhaften Häftlinge völlig unpersönlich und mit einer Kälte, die der objektivierenden Sprache der Texte angemessen ist.
Kuljabins Inszenierung konzentriert sich wie die Texte auf die körperliche Erfahrung der Lagerhaft. Das Politische bleibt ausgeklammert. Stalins Name fällt nicht, nur eine Episode erwähnt flüchtig den entfernt tobenden Zweiten Weltkrieg.
Zwischen den sechs Episoden werden Gedichte Schalamows projiziert. Das Gute erscheint nur in der Gestalt des Geschmacks gefrorener Beeren. Aber gleich wird der Pflücker abgeknallt, und dem Überlebenden vom Wachmann mitgeteilt, dass er lieber ihn erschossen hätte.
„Am Kältepol“ ist das strikte Gegenteil jeglichen Komforttheaters. Die Aufführung macht auf Schalamows grandiose Texte aufmerksam, die bei aller Brutalität über schwierigste Dinge in einer lakonischen Sprache berichten.
Weil es weh tut und weh tun muss
Die Erfahrung ist authentisch: Schalamow war über 20 Jahre als angeblicher Trotzkist in Lagerhaft. Die Jahre zwischen 1938 bis 1953 verbrachte er, teilweise näher dem Tod als dem Leben, in der unzugänglichen Region Kolyma im Fernen Osten der UdSSR. Dann verarbeitete er seine Erlebnisse in Kurzgeschichten, die 1971 im Westen erschienen und in der Sowjetunion lange nach Schalamows unfriedlichem Tod in einer Moskauer Nervenklinik veröffentlicht wurden.
Es ist ein Verdienst des Intendanten Martin Kusej, in seinem Spielplan immer wieder auf die Politik und die Geschichte Osteuropa aufmerksam zu machen, obwohl damit auch im Theater keine Quotenrekorde gebrochen werden. Aber dafür leisten wir uns subventionierte Häuser.
Der „Mensch im Lager“ ist, wie Koljabin im Programmheft betont, eine – bei allen Unterschieden – gemeinsame Angelegenheit der deutschen wie der russischen Geschichte. Eine Erfahrung, die droht, vergessen zu werden. Darum sollte man sich diesen pausenlosen 75 Minuten aussetzen: Weil es weh tut und weh tun muss.
Cuvilliéstheater, wieder am 6. und 25. März sowie am 16. und 22. April, Karten unter Telefon 089 2185 1940. Warlam Schalamows „Geschichten aus Kolyma“ auf deutsch bei Matthes & Seitz