Am eigenen Leib: Halbzeit beim Theaterfestival Radikal Jung am Volkstheater

Das aktuelle Festival für junge Regie "Radikal jung" bietet heuer viel Literarisches und ist dabei divers und unterhaltsam.
Michael Stadler |
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"Das Ereignis" ist eine Produktion des Deutsches Schauspielhauses in Hamburg.
"Das Ereignis" ist eine Produktion des Deutsches Schauspielhauses in Hamburg. © Foto: Sinja Hasheider

München - Das Verhältnis zum eigenen Körper ist beileibe nicht immer zärtlich. Ein Abbild ihres/seines eigenen Gesichts hat Stef Van Looveren aus Kunstharz hergestellt. In übermenschlicher Größe steht die glatt polierte Maske im Foyer des Volkstheaters. Dort findet zur Zeit das Festival "Radikal jung" statt, zu dem Stef Van Looveren mit seiner/ihrer Produktion "Radical Hope – Eye to Eye" eingeladen wurde.

"Radical Hope - Eye to Eye" von Stef Van Looveren

Zu Beginn der Performance schlägt Van Looveren auf dieses Abbild mit einem harten, glänzenden Metallgegenstand ein. Der eigene Körper ist kaum bekleidet; an den Füßen sind Metallschellen angebracht, die ein Schreiten auf den Zehenspitzen erzwingen. Das schweißtreibende Arrangement erscheint jedoch freiwillig - machen wir uns nicht selbst zu Sklaven, wenn es um die Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper geht? Die Schläge auf die Maske, die so massiv ist, dass dabei nur ein bisschen von der Oberfläche absplittert, wirken wie eine Attacke auf das eigene Selbstbild, hinter dem womöglich ein einverleibtes gesellschaftliches Schönheitsideal steckt.

Das Verhältnis zum eigenen Körper wird ausgelotet

Was dann auf der Bühne 2 des Volkstheaters folgt, ist eine immer orgiastischer werdende Schau mit installativem Charakter, bei dem die Performenden ihre Körper freizügig den Blicken preisgeben. In einer Art Garten Eden mit viel Erde und einem Pool prallen sie aggressiv wie lustvoll aufeinander, nehmen ein Schlammbad, was damit endet, dass zwei von ihnen, Van Looveren inklusive, in einer riesigen Schmuckschatulle zu einem innig umschlungenen, blumenumkränzten Statuen-Paar erstarren.

Liebe, Lust und Tod auf der Bühne 2 des Volkstheaters

Die Schatulle wirkt wie auch die Edelversion eines Sargs - Liebe, Lust und Tod liegen nah beieinander, und so schön verkitscht das Ganze aussieht, wirkt es auch wie ein Kommentar auf eine oberflächliche Welt, in der die Körper zum Schauobjekt, zur möglichst perfekten Ware werden. Im Festivalmenü nimmt sich diese Produktion aus Antwerpen wie ein Ausflug in eine etwas abseitigere Gourmetküche aus, die der Worte zur Würzung nicht bedarf und zum genießerischen Schlendern und Gucken einlädt.

Breites Rahmenprogramm mit kritischen Publikumsgesprächen

Als weitgehendes Vergnügen entpuppt sich bislang das gesamte Festival. Die Corona-Pandemie ist praktisch vergessen, auch nach den Vorstellungen bleiben viele da, um maskenfrei sich zu unterhalten. Das Festivalzelt, in dem die Publikumsgespräche stattfinden, ist ebenfalls meist gut gefüllt und ja, es wird durchaus kritisch nachgefragt. Wieso inszeniert man überhaupt noch einen neuen Text von diesem "Typen" Peter Handke, der doch den Genozid in Bosnien geleugnet hat, wird "Zwiegespräch"-Regisseurin Rieke Süßkow von einem jungen Mann gefragt und trotz Verweises darauf, dass die Sachlage wohl etwas komplexer ist, kommt sie etwas ins Rudern.

Bühne 3: bislang kaum genutzt entpuppt sich als intimer Ort für Gastspiele

Eine Entdeckung des Festivals, von einigen, ist die Bühne 3 des Volkstheaters: ein intimer Raum, der bislang kaum für Eigenproduktionen genutzt wurde, aber sich nun als geeigneter Ort für einige der Festival-Gastspiele entpuppt. Gerade durch die Nähe zu den Performenden reißen einen zum Beispiel die "Sistas!" mit: Tschechows drei Schwestern, die in einer Koproduktion des freien Kollektivs Glossy Pain mit der Volksbühne in einen Berliner Altbau mitsamt Lametta-Vorhang, Klavier und Sofa versetzt wurden. Es ist 1994, die Alliierten ziehen aus dem wiedervereinten Deutschland ab und die Schwestern träumen als Töchter eines US-GIs nicht von Moskau, sondern von "Amerika, Amerika, Amerika!".

Ein paar Tschechow-Sätze haben die Spielenden in petto, aber sie gleiten immer wieder nahtlos in einen sehr heutigen Diskurs über Rassismus und Identität, wobei sie kein Problem damit haben, Stereotypen direkt zu benennen und spaßhaft zu bedienen. Was sie umso souveräner erscheinen lässt. Es ist allein schon eine Schau, wie Pianistin Silvia Yi, Künstlername MING, zunächst das Bild der schweigsamen, handwerklich perfekt spielenden Asiatin bedient, um dann im leicht schnoddrigen Ton über solche Klischees herzuziehen und im Gang über die Bühne ein paar ironische Trippelschritte einzustreuen.

Diversität wird am Nationaltheater Mannheim ernst genommen

Die Theater bemühen sich ähnlich wie andere Kulturinstitutionen um Diversität. Was gar nicht so einfach ist, wie Regisseurin Selen Kara beim Publikumsgespräch im Volkstheater-Zelt zu berichten weiß. Für ihre Inszenierung von Fatma Aydemirs Familienroman "Dschinns" wollte sie Schauspielerinnen und Schauspieler finden, die das Epos über die kurdische Familie Yilmaz glaubwürdig auf die Bühne bringen. Nur gibt es im Ensemble des Nationaltheaters Mannheim nicht so viele Menschen mit Migrationshintergrund, weshalb einige Gäste für diese Produktion an Bord geholt werden mussten. Was bedeutet: mehr zu zahlende Gagen und wohl nicht mehr viele Aufführungen der Inszenierung.

Romanadaptionen in einer Reihe

Diese kommt recht konventionell daher: Selen Kara, designierte Co-Intendantin des Schauspiels Essen, nimmt sich zwar einige Freiheiten mit der Vorlage, bietet aber mit ihrem Team insgesamt recht braves Erzähltheater mit frontal zum Publikum gehaltenen Figurenreden und eingestreuten Spielszenen. Das kann man auch angenehm und schlüssig finden, schließlich hat Fatma Aydemir ein packendes Buch geschrieben, dessen Handlungssträngen, ausgehend vom Tod des Familienvaters, man auch in der Erzählung gespannt folgt, insbesondere, weil die Schauspieler beherzt und gekonnt ihr Bestes geben.

Zu "Radikal jung" sind einige Romanadaptionen eingeladen, am Mittwoch kann man etwa "Mein Leben in Aspik" nach dem Roman von Steven Uly sowie Bulgakows "Der Meister und Margarita" erleben.

Fliegender Wechsel von erzählenden und dialogischen Szenen

Eine Theaterversion von Annie Ernaux' autofiktionalem Roman "Das Ereignis" war bereits auf der Bühne 3 in einer Inszenierung von Annalisa Engheben für das Deutsche Schauspielhaus Hamburg zu sehen. Das Gastspiel bescherte dem Münchner Publikum ein Wiedersehen mit Maja Beckmann, einst Ensemblemitglied an den Kammerspielen. Sie sprang für eine erkrankte Darstellerin ein und fügte sich, teilweise mit Textbuch in der Hand, beeindruckend nahtlos in die Inszenierung ein. Auch hier: viele ausgewählte, teils gestraffte Buchpassagen und ein paar dialogische Spielszenen, wenn die unverhofft schwangere Ich-Erzählerin zum Beispiel mit einem Arzt konfrontiert wird, der sie schon bei der Andeutung eines Abtreibungswunsches schroff aus seiner Praxis verweist.

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Große Stücke mit aktuellen Themen

Angesichts heutiger Abtreibungsdebatten hat das Buch, das im Frankreich der 1960er spielt, wenig an Aktualität verloren. Maja Beckmann, Josefine Israel und Sasha Rau machen daraus ein mitreißendes Plädoyer für weibliche Selbstbestimmung, mit einer Skulptur in der Raummitte als ausgiebig genutzter Spielwiese.

Ein riesiger Leib, Arme und Beine chaotisch verschlungen, wird hier zum Abbild des eigenen, fremd gewordenen Frauen- als auch das möglichen Babykörpers. "Das Ding muss weg!" rufen die Drei und versuchen vergeblich, das monströse Objekt hinauszuschieben. Ein anderes Mal bewerfen sie es mit Wollknäueln, um es dann mehrfach zu umwickeln. Der Körper ist nun mal mit den Lebensereignissen unwiederbringlich verstrickt. Dafür sollte man ihn nicht hassen, sondern lieben.


Weiteres Programm: www.muenchner-volkstheater.de

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