"Accattone" von Pasolini und Kantaten von Johann Sebastian Bach in einer Bergbauhalle

Die Kohle ist woanders: "Accattone" nach Pier Paolo Pasolinis Film in der stillgelegten Zeche Lohberg in Dinslaken
Michael Stadler |
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Die Kohle ist woanders: "Accattone" nach Pier Paolo Pasolinis Film in der stillgelegten Zeche Lohberg in Dinslaken

Eine ganz schöne Distanz muss das Festivalpublikum hinter sich bringen, bis es zu seinen Plätzen gelangt. Immerhin ist die einstige Kohlenmischhalle der stillgelegten Zeche Lohberg 210 Meter lang. Eine Strecke, die vom Licht – am einen Ende ist die Halle offen und gibt den Blick frei auf eine niederrheinische Waldlandschaft – in die Dunkelheit führt, zu einer Tribüne, die steil aufragt und dabei so Schwindel erregend ist wie der gesamte Gebäudetrumm, der imposant in der Industrielandschaft der Stadt Dinslaken liegt.

Hier also lässt Johan Simons, Ex-Intendant der Kammerspiele und nun für drei Jahre Chef der Ruhrtriennale, die Eröffnung „seines“ Festivals stattfinden: in einer einstigen Bergbau-Region, die heute von hoher Arbeitslosigkeit geplagt wird. Der stellvertretende Bürgermeister von Dinslaken, Eyüp Yildiz, hat schon im Vorfeld kritisiert, dass das Festival den Ort als „pittoreske Schacht-Kulisse“ missbrauche, „in der sich die Gesellschaft des Kulturspektakels einen Sommer lang feiert, um dann weiter zu ziehen“.

Distanzen überwinden

Johan Simons antwortete auf den offenen Brief von Yildiz, stellte sich beherzt der Dinslakener Bevölkerung bei einem samstäglichen Gespräch auf dem Marktplatz und lud sie zu offenen Proben ein. Distanz überwinden – darum geht es Simons, und dass er für die Eröffnung Pasolinis „Accattone“ von 1961 adaptiert, passt eigentlich in das Konzept, sich dem Ruhrpott und seinen Menschen anzunähern, sie ins Theater zu locken, wo ihr Leben womöglich gespiegelt wird.

Denn immerhin spielt Pasolinis Debütfilm in einem römischen Vorstadtviertel der armen Leute, Accattone ein Typ, der sich der Arbeit verweigert und lieber mit seinen Freunden abhängt, während seine Freundin Maddalena sich für ihn als Prostituierte verdingt. Doch schaut man sich beim Weg durch die Kohlenmischhalle um, Staub und Schotter unter den Schuhen, sieht man eher gut gekleidetes, erlesenes Publikum, das sich die Premierenkarten auch leisten kann.

Von der Tribüne herab sieht man dann ein karges, weites Bühnenarrangement, links ein Loch, als ob schon ein Grab für Accattone ausgehoben wurde, dahinter ein Podest, auf dem das Collegium Vocale Gent, Orchester sowie Chor, unter der Leitung von Philippe Herreweghe auf seinen Plätzen sitzt. Rechts steht ein Container. Und in der Mitte führt ein einzelner Schienenstrang in die Tiefe des Raums, bis zur hinteren Hallenöffnung, zum Saum der Natur, die zu Beginn noch sonnenerhellt in die Dunkelheit strahlt.

Diese Strecke, zunächst vom Publikum zurückgelegt, lässt Simons auch wiederholt seine Schauspieler auf- und abgehen. So spielt sich vorne das Drama der Halbstarken ab, die Kleidung von Steven Scharf bald schmutzig, weil der von ihm gespielte Accattone wegen einer Wette von einer Brücke in den Fluss, beziehungsweise bei Simons in den Dreck springt. Accattone muss kämpfen, um im Elend seiner Existenz nicht unterzugehen. Ein mieses Leben.

Zu Pasolini Kantaten von Johann Sebastian Bach

Aber dahinter weitet sich der Raum, Accattone, seine Gefährten, seine Frauen gehen auf dem Gleis entlang, entfernen sich einzelgängerisch von der Gruppe oder gesellen sich zueinander, werden winzig klein in weitschweifigen Panoramen, die sich aufs Menschsein öffnen. Solche monumentalen Bühnengemälde malt Simons immer wieder, was betörend aussieht, auf Dauer aber redundant wird, so wie die ganze Inszenierung sich in die Länge dehnt. Auch, weil Simons die Gleichzeitigkeit von Musik und Bild, wie man sie im Film erlebt, recht oft in ein Nebeneinander aufteilt. Auch bei Pasolini ist Bach auf der Soundspur zu hören, womit er die Misere des Subproletariats nobilitiert, ihrem Drama Größe und Würde verleiht. Das Collegium Vocale Gent spielt dementsprechend eine Auswahl von Bach-Kantaten, glasklar, wunderschön, die Akustik hervorragend in einer Halle, in der einst Industrielärm herrschte.

„Ich elender Mensch, wer wird mich erlösen“ erklingt als Eingangsmotiv für Accattone, den Steven Scharf mit aller Kraft, sich verausgabend, spielt – er ein Leidensmann, dem doch etwas der Witz abgeht, mit dem Film-Accattone Franco Citti dem Schicksal hin und wieder trotzte. Was bei Pasolini rotzig und realitätsnah daher kommt, ist bei Simons weitgehend getragen, ernst und schön. Das Mädchen Stella, in das Accattone sich verliebt, für die er einen Tag lang sogar arbeiten wird, kommt bei Simons im blütenweißen Kleid von hinten aus der Natur, buchstäblich eine Unschuld vom Lande, wobei Anna Drexler nicht die Klischee-Naive des Films spielt, sondern ihrer Stella mehr Widerstandskraft und Charme verleiht.

Simons weigert sich, die Filmbilder geschundener Frauen zu wiederholen: Während Maddelana bei Pasolini von einer Gruppe Freiern verprügelt wird, vollführen Sandra Hüller und Benny Claessens ein Pas de Deux, bei dem sich die Körper umschlingen, abstoßen, brüsk bis liebevoll. Statt Schlägerei also Tanztheater, was zwar für die Bühne Sinn macht, aber der Gewalt den Zahn zieht. Am Ende schiebt Steven Scharf das Moped, mit dem der flüchtende Accattone nach einem Raubüberfall verunglückt, nach vorne, um sich fürs Sterben hinzulegen. „Komm, o Tod, du Schlafes Bruder“ erklingt tröstend, und die Frauen eilen am schiebenden Scharf vorbei, hin zur Natur, möglicherweise erlöst vom Regiment der Männer.

Das ist durchaus ergreifend. Accattone selbst ist jedoch einem nicht nahe gekommen, nicht nur, weil der Abstand von den Rängen zu ihm weit ist, sondern auch, weil die Kunst, wie Simons sie versteht, zwar ein Gefühl fürs Allgemeinmenschliche öffnet, aber zum Einzelnen, wie er da konkret steht, ziemlich viel Distanz schafft.

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