Zwischen Nichtmehr und Nochnicht

Volker Ullrich beschreibt in „Acht Tage im Mai“ die letzte Woche des Dritten Reiches
Robert Braunmüller
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Der ehemalige Großadmiral Karl Dönitz – hier 1974 in seinem Haus bei Hamburg.
Werner Baum/dpa Der ehemalige Großadmiral Karl Dönitz – hier 1974 in seinem Haus bei Hamburg.

Am 30. April erreichten die ersten Soldaten der US-Armee München, die „Hauptstadt der Bewegung“. Am gleichen Tag erschoss sich Hitler im Bunker der Berliner Reichskanzlei. Aber der Zweite Weltkrieg war damit noch nicht zu Ende. Es brauchte noch „Acht Tage im Mai“, bis wenigstens in Europa endlich Frieden herrschte.

Der Historiker und „Zeit“-Journalist Volker Ullrich hat in seinem gleichnamigen Buch die letzte Woche des „Dritten Reiches“ beschrieben. Sie endete erst mit der doppelten Kapitulation der deutschen Wehrmacht am 7. Mai in Reims und am 8. Mai in Berlin. In diesen acht Tagen verteidigten fanatische Nazis noch den Stadtkern von Breslau. Auch in anderen Teilen des von den Deutschen noch gehaltenen Streifens zwischen Flensburg, Prag und Kärnten wurde noch gekämpft. In der Hoffnung, mit einem blauen Auge davonzukommen, verhandelten einzelne Nazi-Machthaber mit den Russen und den West-Alliierten über einen Separatfrieden. Im Pazifik dauerte der Krieg ohnehin noch bis zur Kapitulation Japans am 2. September.

In der letzten Woche des NS-Regimes regierte der von Hitler zum Nachfolger bestimmte Großadmiral Karl Dönitz als Reichspräsident. „Er trägt die Hauptverantwortung dafür, dass der Krieg auch nach dem Selbstmord des Diktators noch um eine volle Woche verlängert wurde“, resümiert Ullrich im Vorwort. „Sein Konzept – Teilkapitulation im Westen bei Fortsetzung des Krieges gegen die Sowjetunion – sollte nicht nur möglichst vielen Zivilisten und Soldaten die Flucht hinter die britischen und amerikanischen Linien ermöglichen, sondern auch Zwietracht säen im Lager der Anti-Hitler-Koalition.“

Im Stil einer Chronik

Das schattenhafte Wirken der „geschäftsführenden Reichsregierung“ unter Dönitz’ in Flensburg bildet den roten Faden. Ulrich stellt – gegen die spätere beschönigende Selbstweißwaschung der Beteiligten – die „geradezu gespenstische Kontinuität“ zum NS-Regime heraus. Bezeichnenderweise brauchte Dönitz bis zum 5. Mai, bis er endlich den Innenminister und SS-Führer Heinrich Himmler entließ.

Dönitz wurde vom Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg zu zehn Jahren Haft verurteilt und starb erst 1980 im Alter von 89 Jahren. 1963 – das kommt in Ullrichs Buch nicht vor – wurde er übrigens vom späteren schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten und damaligen Schülersprecher Uwe Barschel, ins Otto-Hahn-Gymnasium Geesthacht eingeladen. Dort referierte er vor Schülern der Klassen 9 bis 13 über das Dritte Reich, was ein Lokalblatt als „Geschichtsunterricht in höchster Vollendung“ lobte.

Ullrich beschreibt mit Hilfe historischer Tagebücher, Erinnerungen und Briefen die chaotische Phase des „Nichtmehr“ und „Nochnicht“ aus der Befreiung von Konzentrationslagern und letzten Todesmärschen, Massenvergewaltigungen und ersten wilden Vertreibungen von Deutschen aus Tschechien und Schlesien. Aber sein Buch enthält auch Anekdotisches wie den Besuch von Marlene Dietrich bei ihrer Schwester, deren Ehemann auf dem Truppenübungsplatz direkt neben dem KZ Bergen-Belsen ein Kino betrieb.

Das Buch fasst sehr gut eine kleine Bibliothek an Literatur zur „Stunde Null“ zusammen. Weniger gelungen ist allerdings der Einzelereignissen verpflichtete Chronik-Stil und der Verzicht auf jede Analyse. Und wenn man, im Licht der aktuellen Krise, schlicht wissen möchte, ob in der Stunde Null Geschäfte und Gasthäuser offen blieben oder geschlossen waren, erfährt man darüber leider nichts. Robert Braunmüller

Volker Ulrich: „Acht Tage im Mai. Die letzte Woche des Dritten Reiches“ (C.H. Beck, 317 S., 24 Euro, auch als digitales Hörbuch und als E-Book)

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