Kritik

Zweisamkeit? Oder doch Einsamkeit? „No Way Home“, der neue Roman von T.C. Boyle

Der neue Roman von T.C. Boyle umkreist die Frage, ob man lieber allein bleiben oder toxisch zusammenleben will.
von  Michael Stadler
T.C. Boyle, Autor.
T.C. Boyle, Autor. © picture alliance/dpa

Der Konflikt, der sich zwischen Berufs- und Privatleben jederzeit ergeben kann, liegt bereits im ersten Satz dieses Buchs. „Als seine Mutter starb, hatte er Dienst“, so heißt es zu Beginn von „No Way Home“, dem neuen Roman von T.C. Boyle. Und schon wird man in den Alltag von Terrence geworfen, der in seinem dritten Jahr als Assistenzarzt in einem Krankenhaus in L.A. arbeitet.

Trotz der Todesnachricht, die ihm die Nachbarin seiner Mutter am Telefon überbringt, kann Terrence seine Schicht nicht abbrechen, sondern muss erst noch einen „adipösen Hispano“ behandeln, der beim Ausräumen einer Dachrinne von der Leiter gefallen ist und plötzlich über Brustschmerzen klagt. Der Patient stirbt - ein Ereignis, das für Terrence nicht neu ist: „Der Tod war ihm vertraut.“ Nur, dass er nun selbst mit dem Ableben seiner Mutter konfrontiert wird und nach Boulder City fahren muss, einem Kaff in der Wüste Nevadas, einige Autostunden von L.A. entfernt.

Rasant entwirft Boyle die Grundsituation seines Romans, erzählt von einem Arzt, der abrupt seine vertraute Umgebung an der Westküste verlassen muss, um in Nevada auf ein anderes Amerika zu stoßen: Hier schallen aus den Autoradios Countrymusik und Talkshows mit Rechtsdrall, hier gibt es in den Bars und Diners billiges Bier und schlechtes Essen - und eine junge Frau im türkisen Kleid, die sich bei Terrence eine Zeitung ausleiht, um die Wohnungsanzeigen zu studieren.

Die letzten Dinge regeln

Es ist eine Bekanntschaft, die vielleicht gar nicht so zufällig ist, wie es zunächst scheint. Jedenfalls wird Terrence, der vorübergehend in der Wüste Nevadas, im Haus seiner Mutter bleiben muss, um die letzten Dinge zu regeln, erneut der jungen Frau begegnen, wird mit ihr tanzen, sie mit zu sich nehmen, mit ihr ins Bett gehen.

Um sie in der Folge nicht mehr loszuwerden. Denn während er vorübergehend nach L.A. zurückkehrt, nistet die wohnungssuchende Bethany sich ohne seine Erlaubnis im Haus seiner Mutter ein, transportiert ihre Möbel mit dem Auto der Verstorbenen - und bietet sich Terrence bei seiner Rückkehr als unterstützende Helferin und Liebe fürs Leben an.

T.C. Boyle, US-amerikanischer Schriftsteller.
T.C. Boyle, US-amerikanischer Schriftsteller. © picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild

Dass Terrence sich nach einigen Bedenken in diese eigenartige Beziehung begibt, lässt sich mit gegenseitiger triebhafter Anziehung erklären - und dem Vorhaben Boyles, in seinem neuen Roman von toxischen Beziehungen, von den darin sich abspielenden Machtmechanismen zu erzählen.

„Willst du einen Rat? Sie ist Gift. Das weißt du noch nicht, aber du wirst es bald herausfinden“, sagt Jesse, der Ex-Freund von Bethany zu Terrence. Wobei Jesse selbst an Bethany festhält.

Opfer- und Täterrollen rotieren beständig

Die Eifersucht des Ex führt zu Turbulenzen, die Boyle immer weiter eskalieren lässt - bis hin zu Gewalttaten, in der nicht nur alle Beteiligten des explosiven Beziehungsdreiecks verwickelt sind, sondern auch der Hund der Mutter, Daisy.

Nach einem Kampf zwischen Mann und Tier verliert das Tier ein Auge, behält das Geschehen aber im Blick. Wie einseitig, ja, halbblind jede menschliche Sichtweise ist, eingefärbt durch die Herkunft, den Beruf, die eigene Geschichte, macht Boyle im Wechsel der Erzählperspektiven klar und lässt auch die Opfer- und Täterrollen beständig rotieren.

T.C.Boyle bei einer Lesung in Berlin.
T.C.Boyle bei einer Lesung in Berlin. © picture alliance / Jörg Carstensen/dpa

Ganz eintauchen möchte er jedoch in seine drei Hauptfiguren offenbar nicht, wählt nie die „Ich“-Perspektive, sondern bleibt in der dritten Person Singular, ist dabei mal näher an Terrence, mal an Bethany, mal an Jesse dran. Wie Terrence jeden seiner Mitmenschen mit den Augen eines Arztes durchleuchtet, wird fast zum Running-Gag in den Kapiteln, die mit „Terrence“ betitelt sind.

Welche Pathologie sein jeweiliges Gegenüber mit sich herumschleppt, erfasst der Profi-Mediziner mit einem Blick und wirkt in seinem Urteil nur dann benebelt, wenn er mit Bethany zusammen ist. Die wirkt in „ihren“ Kapiteln weniger intrigant als es zunächst scheint, ist dennoch nicht auf den Kopf gefallen, während ihr Ex Jesse sein eigenes Tun offenbar kaum reflektieren kann. Auf der einen Seite wirkt Jesse wie der typische Vertreter des „White Trash“-Amerikas, bekommt aber von Boyle eine künstlerische Seite verpasst, die etwas unglaubwürdig erscheint. So nimmt Jesse an einem Creative-Writing-Seminar teil, geht mit der Leiterin des Kurses ins Bett und bekommt von ihr, womöglich als Gegenleistung für den Sex, eine Möglichkeit zur Veröffentlichung vermittelt.

Allen Figuren wird gleich viel Raum gegeben

Inwiefern Boyle seinen eigenen Werdegang in Jesse einschreibt, lässt sich nur vermuten. Jedenfalls gibt er allen Figuren gleich viel Raum, überlässt dem Leser die Entscheidung, mit wem man sich am meisten identifizieren möchte. Trotz dunkler Wesenszüge bleibt man eben an manchen Menschen hängen, das ist die Crux, die Boyle von allen Seiten beleuchtet.

Zweisamkeit kann der Horror sein, Einsamkeit aber auch. Wenn die Figuren mal allein sind, lässt Boyle mitunter die Langeweile über sie einbrechen. Also: Ist da einem eine leicht giftige Beziehung nicht lieber?

Der neue Roman von T.C. Boyle
Der neue Roman von T.C. Boyle © Hanser

Die (unerfüllte) Sehnsucht nach einem Ankerpunkt steckt bereits im Titel dieses Romans: In „No Way Home“ pendelt Terrence zwischen L.A. und Nevada und fühlt sich nirgends richtig heimisch. Muss er sich vielleicht doch für einen Ort, eine Lebensform entscheiden?

Eine literarische Heimat hat offenbar T.C. Boyle für sich gefunden: Sein neuer Roman ist jetzt auf Deutsch im Hanser-Verlag erschienen (Übersetzung: Dirk van Gunsteren), das US-Original erscheint erst im nächsten Frühjahr. Die europaweiten Vertriebsrechte für die englische Ausgabe hat ebenfalls Hanser inne.

Tja, als Schriftsteller im heutigen Trump-Amerika fühlt man sich womöglich eher im Ausland zu Hause.

T.C. Boyle: „No Way Home“ (Hanser, 384 Seiten, 28 Euro), T.C. Boyle liest aus seinem Roman am 24. November in der Isarphilharmonie (deutsche Lesung: Ben Becker), 35 - 70 Euro, muenchenticket.de

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