Zeruya Shalevs Debütroman "Nicht ich"

Der erste Roman der israelischen Autorin erscheint mit 30-jähriger Verspätung auf deutsch
Anne Fritsch |
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Die israelische Schriftstellerin Zeruya Shalev.
imago/Leemage Die israelische Schriftstellerin Zeruya Shalev.

Zeruya Shalevs neuer Roman "Nicht ich" ist eigentlich ein alter, sogar: ihr ältester. Er erscheint als Roman einer erfolgreichen Autorin und ist doch das Debüt einer unbekannten. 1991 saß die heutige Bestseller-Autorin, die damals als Lektorin in einem Verlag in Jerusalem arbeitete, in einem Café und wartete auf einen Autor. Sie war mit ihm verabredet, um über sein Gedicht zu schreiben. Sie "betrachtete die Mütter, die eilig ihre weinenden Kinder, die sich nicht trennen wollten, hinter sich herzerrten. Sie sahen dermaßen erschöpft aus. Und der Tag hatte doch erst angefangen."

So schildert sie jenen Vormittag im Vorwort der deutschen Übersetzung, die nun über 30 Jahre später in Deutschland erscheint. Shalev war damals 32, verheiratet und Mutter einer vierjährigen Tochter. Während sie auf den Autor wartete, begann sie, auf die Rückseite seines Manuskriptes zu schreiben. Als dieser eine Stunde verspätet erschien, hatte sie bereits zehn Seiten geschrieben. Sie waren der Anfang ihres ersten Romans, und das Ende ihrer damaligen Ehe. Ein Monolog einer "wilden jungen Frau, die sich gegen ihre Mutterpflichten auflehnt, die Konventionen durchbricht und der zum Schluss von allen ihren Beziehungen nichts bleibt". Vielleicht - vermutlich - war es auch ein wenig sie selbst, die da aufschrie.

Eine Überschreibung des Originals?

Dass ihr Debüt in Israel "mit Wut und Unverständnis" aufgenommen wurde, verängstigte die Autorin. Sie kehrte zurück zur Lyrik und wagte sich erst zwei Jahre später wieder an einen Roman: "Liebesleben" wurde - auch hierzulande in der Übersetzung von Mirjam Pressler - international ihr Durchbruch.

Fünf weitere erfolgreiche Romane brauchte es, bis Shalev es nach eigenen Worten "wagte", ihren "Erstling" erneut zu lesen. Jetzt konnte sie ihre "wilde und gebeutelte Heldin" ins Herz schließen und "für ihren Mut bewundern". Sie begann, den Roman für eine Übersetzung ins Deutsche vorzubereiten, "der jungen Autorin, die ich damals war, die Hand zu reichen". Nun also ist er da, der erste oder siebte Shalev-Roman, je nach Zählung. Leider ist es nicht möglich, so spannend es auch wäre, nachzuvollziehen, wo und wie stark die Zeruya Shalev von heute die Zeruya Shalev von damals überschrieben, gekürzt, geglättet, ergänzt oder sonstwie überarbeitet hat (zumindest so man kein Hebräisch versteht). Das Ergebnis ist also wie es ist, und kann nur als solches betrachtet werden.

Die Konturen verwischen sich

Anders als bei ihren späteren Romanen gibt es hier keine Handlung, keine klar definierte Erzählerin und erst recht keine klar definierte Lebenssituation. Nur eines stellt sie klar: Diese Erzählerin ist "nicht ich". Anscheinend gibt es einen Mann, der verlassen wird, einen Liebhaber und einen Ex-Liebhaber, doch verwischen sich die Konturen beim Lesen. Alles wird zu einem einzigen großen Gefühl - oder Gefühlschaos. Ist die Tochter entführt, verlassen, vermisst? Dieses Buch lässt keine Sicherheiten, keine Gewissheiten zu. Man kann sich davon mitreißen lassen. Oder sich dagegen verwehren. Wer verstehen will, wird auf die Nase fallen. Wer entschlüsseln will, wird auf falsche Fährten gelockt. Wer sich aber darauf einlässt, kann einiges mitnehmen an sprachlicher und emotionaler Wucht. Wenn die Erzählerin an das Kind denkt, die Tochter, an das letzte gemeinsame Chanukka, schreibt sie Sätze wie diesen: "Ich dachte an den großen, weichen Klumpen ihres Glücks, den ich aus unserem Fenster werfen würde, all das dem Anschein nach Heile und Ganze, was man eben so Familie nennt."

Eine schwierige Liebe

Shalev umkreist den Verlust der Sicherheit, die vielleicht eben nur ein Anschein war, das Aufbrechen und Zerbrechen des Konstrukts Familie. Sie streift die ganz großen Lebensthemen, Liebe, Verlust, Übergriffe, Traumata. Von Mutter der Erzählerin, die ihre Tochter mit immer anderen Namen anredet, je nach Gemütsverfassung, bis zu jener Tochter, die zurückgelassen wird. Drei Generationen von Frauen, die aufscheinen in Traum- oder Albtraumsequenzen, einer Gemengelage aus Konflikten und Ängsten, solchen vor Verlust und solchen vor Nähe.

"Ich bin mit Ll Ii Ee Be Ee nie zurechtgekommen", heißt es einmal. "Für mich war das eine stinkende Verbindung von Schweiß und Sperma, Stechen im Bauch vom Ärger und Kopfschmerzen vom Weinen. Ich hab schon mit zwölfeinhalb gesagt: Vielen Dank, meine Herrschaften, das ist nichts für mich." Sätze wie diese klingen abstrus im Debüt einer, die in ihren Romanen wie keine andere um eben diese Liebe kreisen wird, die angeblich nichts für sie ist. Verzeihung: nichts für diese ihre erste Erzählerin.

Wenn man meint, ihr auf die Spur zu kommen, löst sich alles augenblicklich auf wie Schnee in der Sonne. Indizien verlieren sich wie die Protagonistin ihre Haare, unerklärlich, plötzlich, unlogisch. Motive kehren wieder, werden variiert und implodieren schließlich in neuen Bildern. "Nicht ich" schwebt zwischen den Genres, zwischen Lyrik und Prosa.

Dieser Roman ist der Übergang vom Gedicht zum Roman, er lässt seine Leser im Ungewissen und mit einem zwiespältigen Gefühl zurück. Die, die Shalev lieben und ehren, dürfen sich hier auf Spurensuche begeben und werden einiges herausziehen aus diesem noch nicht ganz aufgegangenen Keimling ihrer Erzählkunst.

Am Samstag, 3. Februar, stellt Zeruya Shalev ihren Roman im Marstall vor. Die Lesung ist bereits ausverkauft

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