Kritik

Uwe Wittstocks Buch "Marseille 1940"

Das Buch des Journalisten beschreibt die Rettung von Künstlern vor den Nazis
Volker Isfort
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Varian Fry (r.) mit Jacqueline Lamba Breton, André Masson und André Breton in seinem Büro in Marseilles.
IMAGO/Bridgeman Images 2 Varian Fry (r.) mit Jacqueline Lamba Breton, André Masson und André Breton in seinem Büro in Marseilles.
Der Hafen von Marseille.
picture alliance/dpa 2 Der Hafen von Marseille.

In seinem Buch "Februar 33 - Der Winter der Literatur" beschrieb der Journalist Uwe Wittstock vor drei Jahren, wie die Nazis journalistische und literarische Stimmen unterdrückten und das kulturelle Leben der Weimarer Repubik abwürgten. Sein neues Buch "Marseille 1940" ist gewissermaßen die logische Fortsetzung dieses Themas. Denn Frankreich bildete eines der Hauptziele der Künstlerinnen und Künstler, die vor den Nazis fliehen mussten. Und 1940 wiederholt sich für sie der Alptraum, als die deutschen Truppen Frankreich überrennen, das schließlich in eine besetzte und unbesetzte Zone geteilt wird.

In Amerika sorgt sich Präsidentengattin Eleanor Roosevelt um das Schicksal jüdischer Künstlerinnen und Künstler. Lion Feuchtwanger hat sie Jahre zuvor auf einer Lesereise in den Vereingten Staaten kennengelernt. Nun erfährt sie, dass er in einem französischen Internierungslager festsitzt. Auch mit ihrer Unterstützung und privaten Geldspenden versucht das Emergency Rescue Committee (ERC) bedrohte, meist jüdische Künstler nach Amerika zu bringen. Dafür wird der junge Journalist Varian Fry nach Marseille entsandt, um dort ein Büro aufzubauen und die extrem komplizierte Flucht zu ermöglichen.

Auch mit ihrer Unterstützung und privaten Geldspenden versucht das Emergency Rescue Committee (ERC) bedrohte, meist jüdische Künstler nach Amerika zu bringen. Dafür wird der junge Journalist Varian Fry nach Marseille entsandt, um dort ein Büro aufzubauen und die extrem komplizierte Flucht zu ermöglichen.

Heinrich Mann muss mit 69 Jahren zu Fuß nach Spanien fliehen

Diesen lange vergessenen Helden stellt Wittstock in den Mittelpunkt seines extrem spannenden und meisterhaft arrangierten Buches. In kurzen Kapiteln zeichnet er streng chronologisch das Schicksal der vermeintlich in der Falle sitzenden Künstlerinnen und Künstlern nach. Es ist ein fesselnder Wettlauf gegen den Zugriff der Nazis, dem man gebannt folgt.

Der schon im sicheren amerikanischen Exil weilende Thomas Mann hatte eine Liste mit über 200 Namen zusammengestellt, an der sich Fry im Laufe seiner 13 Monate in Marseille aber immer weniger orientieren wird.

Der Hafen von Marseille.
Der Hafen von Marseille. © picture alliance/dpa

Das Hauptproblem für die auf der Liste befindlichen Personen ist nicht die Beschaffung der Visa für die Vereinigten Staaten oder der Transitvisa durch Spanien und Portugal bis Lissabon, sondern die Ausreisegenehmigung aus Frankreich.

Die französischen Behörden des Vichy-Regimes kooperieren immer enger mit den Nazis und haben von diesen Listen erhalten mit Personen, die keinesfalls Frankreich verlassen dürfen. Da der Hafen von Marseille stark kontrolliert wird, bleibt dem ERC der Seeweg zur Flucht verschlossen. So müssen selbst die körperlich angeschlagenen Flüchtlinge wie der 69-jährige Heinrich Mann illegal und zu Fuß über die Pyrenäen nach Spanien geführt werden, wo sie dann legal zum Hafen nach Lissabon weiterreisen können.

Getrübte Freude

Thomas Mann erfährt am 20. September 1940 nach Wochen der Unsicherheit über ihr Schicksal von der Rettung seines Bruders und seines Sohnes Golo. Uwe Wittstock bemerkt dazu süffisant: "Die Freude darüber wird allerdings, notiert Thomas Mann am Abend in seinem Tagebuch, für ihn ein wenig getrübt durch die Tatsache, dass auch Nelly Mann unter den Geretteten ist." Die von Thomas Mann als vulgär empfundene Bardame und zweite Ehefrau Heinrichs wird ihm später noch so manche Stunde in seiner Villa in Pacific Palisades verleiden.

Fry hingegen bringt die Rettung von Lion Feuchtwanger in Bedrängnis, als dieser in New York vor der Presse seinen "amerikanischen Freunden" in Frankreich dankt. Längst haben die französischen Behörden ein Auge auf ihn und sein Büro geworfen. Und bald ist Fry auch seinen Vorgesetzten in den USA ein Dorn im Auge, weil er sich nicht strikt an die engen Vorgaben hält. Er will jeden retten, nicht nur die künstlerische Prominenz. Mutig und eigenmächtig, auch weil er mit Mary Jane Gold und Peggy Guggenheim vermögende, amerikanische Unterstützerinnen hat, weitet Fry seine Aktivitäten aus.

Nicht alle schaffen es in die Freiheit. Walter Benjamin nimmt sich in einem Pyrenäenort das Leben, als die spanischen Behörden ihm die Einreise verweigern, weil sich eine Verordnung am Tage zuvor verschärft hat. Nach dem Tod des Autors wird sie wieder zurückgenommen. Und selbstverständlich ist nicht das ERC allein für die Rettung der Menschen verantwortlich. Hannah Arendt, Anna Seghers und vielen anderen kommt auch die Unterstützung aus dem französischen Volk zugute.

Eine Netflix-Serie dreht sich um Varian Fry

Auch Beamte entdecken ihren Widerstandsgeist: Als Max Ernst im Juni 1941 ohne gültige Papiere über Cafranc nach Spanien reisen will, wird sein Pass beschlagnahmt und er an der Weiterreise gehindert. Er öffnet den Koffer, entrollt seine Bilder und installiert eine Art Pop-up- Ausstellung in der Bahnhofshalle. Der französische Grenzer entdeckt das Talent des Surrealisten und vergisst seine Anweisungen. Er gibt Ernst seinen Pass zurück und schickt ihn nach Spanien.

Uwe Wittstocks Buch ist reich an solchen Anekdoten, immer wieder blitzt die menschliche Solidarität auch in den schlimmsten Stunden des Unrechts auf. Varian Fry allerdings wird für seinen idealistischen Kampf zu Lebzeiten nicht mehr die verdiente Anerkennung bekommen. Erst 1994, knapp drei Jahrzehnte nach seinem Tod ehrt man ihn in Yad Vashem mit dem Titel "Gerechter unter den Völkern". Im vergangenen Jahr machte die Netflix-Serie "Transatlantic" Frys Wirken auch einer jüngeren Zielgruppe bekannt.

Uwe Wittstock stellt "Marseille 1940 - Die große Flucht der Literatur" (C.H. Beck, 352 Seiten, 26 Euro) am 5. März im Literaturhaus vor. Die Veranstaltung ist bereits ausverkauft

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