Unbekannte Opern: Schätze auf die Bühne heben

Bernd Feuchtners Buch "Die Oper des 20. Jahrhunderts in 100 Meisterwerken" wirbt für unbekannte Werke.
Robert Jungwirth |
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Die Oper "Nixon in China" von John Adams stand 2019 in einer Inszenierung von Marco Storman auf dem Spielplan der Stuttgarter Staatsoper.
Die Oper "Nixon in China" von John Adams stand 2019 in einer Inszenierung von Marco Storman auf dem Spielplan der Stuttgarter Staatsoper. © Matthias Baus

Die Oper "Nixon in China" von John Adams, uraufgeführt 1987 in Houston Texas, war ein Sensationserfolg in den USA. In Deutschland rümpften dagegen viele die Nase über ein Werk, das den ersten Staatsbesuch eines amerikanischen Präsidenten im Reich der Mitte behandelt. Was sollte diese neue Einfachheit in der Musik und was sollte Realpolitik auf der Opernbühne?

Der Musikjournalist, Dramaturg und frühere Operndirektor Bernd Feuchtner sieht in dem Werk eine gelungene Synthese von Foto-Realismus und dessen künstlerischer Übertragung in lebendige Bühnenfiguren. "Die Oper erklärt weder den Kommunismus noch den American Way of Life, sie nimmt die von den Medien geschaffene Realität und gestaltet sie mittels individueller belebter Bühnenfiguren neu. Sie erzählt ein neues Märchen."

Im 20. Jahrhundert wurden über 10.000 Opern komponiert

Mehr als 10.000 Opern wurden im 20. Jahrhundert komponiert. Ein Bruchteil davon dürfte allgemein bekannt sein, und davon wiederum ein Teil nur taucht in den Spielplänen der Opernhäuser regelmäßig auf, wenn man mal von den Werken von Richard Strauss und Benjamin Britten absieht. Dabei ist gerade das Opernschaffen des 20. Jahrhunderts überaus vielfältig und reich an herausragenden Werken.

Feuchtner hat im Lauf seines Berufslebens mehrere Hundert davon kennengelernt und nun 100 von ihnen für ein Porträtbuch ausgewählt. Der Autor bedauert die noch immer verbreitete Reserviertheit gegenüber Opern des 20. Jahrhunderts, die nicht zum gängigen Werke-Kanon gehören. Die Verengung des Repertoires an den Opernhäusern, die Mutlosigkeit von Intendanten, auch unbekannte, aber dennoch spannende Werke aufs Programm zu setzen, haben ihn dazu veranlasst, das Opernschaffen des 20. einmal genau in den Blick zu nehmen und es in einer persönlichen Best-of-Liste ausführlich zu porträtieren.

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Feuchtners Auswahl erhebt keinen Anspruch auf eine wie auch immer geartete Objektivität, sie ist Ergebnis seiner jahrzehntelangen professionellen Beschäftigung mit dem Genre Oper. Dementsprechend lautet der Titel auch nicht "Die besten Opern des 20. Jahrhunderts", sondern "Die Oper des 20. Jahrhunderts in 100 Meisterwerken". Geordnet sind die Werke nicht etwa nach Komponisten, sondern nach Jahren. Für jedes Jahr wählte er in der Regel eine Oper und von jedem Komponisten durfte nur ein Werk ins Buch.

Den vergessenen Opern gilt ein besonderer Augenmerk

Manches Erwartbare hat da keinen Platz gefunden, dagegen gibt es ein paar Überraschungen. Etwa "Rothschilds Geige" des Schostakowitsch-Schülers Benjamin Fleischmann, die Don-Juan-Version von Erwin Schulhoff mit dem Titel "Flammen" oder "Goyescas" von Enrique Granados - eine Oper, bei der zuerst die Musik da war und dann der Text hinzu kam, die aber dennoch zu einem beeindruckenden geschlossenen Ganzen wurde und 1916 an der Metropolitan Opera New York ihre triumphale Uraufführung erlebte.

Gerade die vergessenen Opern sind es, denen Feuchtners besonderes Augenmerk gilt. Und er macht auch aus persönlichen Vorlieben kein Geheimnis. Richard Strauss etwa hält er für überschätzt, Alexander Zemlinsky für unterschätzt. Und Opern außerhalb Zentraleuropas würden ohnehin viel zu wenig wahrgenommen.

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So finden sich in der knapp 700 Seiten starken Sammlung beispielsweise auch Werkporträts zu "The Passion of Jonathan Wade" von Carlisle Floyd oder zu "Florencia en el Amazonas" des Mexikaners Daniel Catán. Beide Werke hat Feuchtner als Dramaturg und Operndirektor in Heidelberg, Salzburg und Karlsruhe überhaupt erst in Europa bekannt gemacht.

Der Autor stellt obendrein ausführliche Bezüge her zur Musik-, Kunst- und Zeitgeschichte, in der die jeweiligen Werke stehen: wenn er etwa den Einfluss der Malerei auf Morton Feldman ("Neither" nach Beckett) thematisiert oder die Verbindungen zwischen Gustav Klimt und Zemlinsky beschreibt und dazu gleich noch die Geschichte des Jugendstils abhandelt. Das hilft, die Werke in größeren Zusammenhängen zu sehen, gerade weil man von Stilen oder Schulen angesichts der Vielfalt an kompositorischen und theatralen Modellen in der Oper des 20. Jahrhunderts kaum mehr sprechen kann.

Essays überaus lebendig und spritzig geschrieben

Die 100 Essays sind allesamt für einen Opernführer überaus lebendig, geradezu spritzig geschrieben. Feuchtner trägt sein Wissen erfreulicherweise nicht vor sich her. Er möchte - was gutes Theater auch will - sein Publikum unterhalten und verführen. So ist dieser Opernführer durchs 20. Jahrhundert auch ein Füllhorn an musik- und kunstgeschichtlichen Einblicken - überreich, mitunter sogar fast überbordend im Eifer des Erklärens und Bezüge-Schaffens. Ein "Kurz und bündig"-Handbuch für Eilige ist das Buch nicht, man sollte als Leser also ein bisschen Zeit übrig haben.

Nicht zuletzt widmet sich der Autor in eigenständigen Aufsätzen Themen wie der politischen Oper, dem Musiktheater in der DDR und der Oper in Lateinamerika. Und er präsentiert zu jedem Werk sorgfältig ausgewählte Aufführungsfotos, zumeist aus Produktionen der jüngeren Zeit. Auch das sorgt für die Vergegenwärtigung eines Schatzes, den es zu heben lohnt - für Intendanten und für Operninteressierte gleichermaßen.


Bernd Feuchtner: "Die Oper des 20. Jahrhunderts in 100 Meisterwerken" (Wolke Verlag, 687 Seiten, 39,80 Euro)

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