Ulmer Historiker Thomas Schuler: Wurde Napoleon vergiftet?

Ulm - Ein Leben genügt nicht, um alle Bücher lesen zu können, die bislang über Napoleon erschienen sind. Es sind weltweit weit mehr als eine Million. Einer der Autoren ist der Ulmer Historiker Thomas Schuler, der mehrere Standardwerke über Napoleon publiziert hat. Und er glaubt, dass gerade wegen der Flut der Bücher der Blick auf Napoleon, der heute vor 200 Jahren starb, verschwommen bleibt.
AZ: Herr Schuler, was fasziniert Sie immer noch an Napoleon?
Thomas Schuler: Das Thema Napoleon ist so spannend, weil sich an ihm die Geister scheiden. Das war schon zu seinen Lebzeiten so. Goethe war ein großer Bewunderer Napoleons, Heinrich von Kleist nannte ihn einen Satan und Höllensohn, dem man eine Kugel durch den Kopf schießen müsse. Heinrich Heine verehrte Napoleon schwärmerisch, Tolstoi spricht ihm alles Menschliche ab. Erstaunlich ist aber auch, wie viele falsche Fakten noch im Umlauf sind.
"Napoleon wollte nach 1802 den Frieden halten und bewahren"
Nennen Sie doch ein konkretes Beispiel.
Zum Beispiel die Kriegsschuldfrage: Von den sieben Koalitionskriegen wurden fünf von den Alliierten begonnen und von England finanziert. Die Kriege gegen Spanien und Russland hat Napoleon angefangen, alle anderen waren Angriffskriege gegen Frankreich. London und Wien haben Napoleons Friedensangebote kategorisch abgelehnt. Der Frieden von Amiens von 1802 wurde von den Briten 1803 ohne formale Kriegserklärung beendet. Napoleon wollte nach 1802 den Frieden halten und bewahren und Frankreich konsolidieren, trotzdem gilt er fälschlicherweise als der Herrscher, der Europa fortwährend mit Krieg überzogen hat.
Und noch ein Urteil überzeugt Sie nicht: das der Geschichte über den Tod Napoleons.
Was zählt, sind objektiv überprüfbare Fakten dessen, was sich auf St. Helena abgespielt hat. 24 Stunden nach Napoleons Tod fand die Autopsie statt, dabei waren sieben englische Ärzte und Napoleons korsischer Leibarzt Francesco Antommarchi anwesend. Es kam zum Streit über die Todesursache. Es gab vom britischen Gouverneur Hudson Lowe einen Befehl, dass auf keinen Fall ein Leberleiden im Autopsiebericht stehen dürfe, wie der korsische Arzt es forderte. Die Briten sahen die Todesursache in den Magengeschwüren.
Napoleons Leiche "außergewöhnlich fett"
Warum macht das so einen großen Unterschied?
Als Napoleon auf St. Helena ankommt, ist er kerngesund, ab Mitte 1816 geht es langsam, aber stetig mit ihm bergab. Menschen aus seiner Entourage, die nach einiger Zeit St. Helena verließen, brachten Locken des Kaisers als Erinnerungsstücke nach Europa. Schon in den 60er Jahren hat ein schwedischer Forscher durch Laboruntersuchungen einen "hochkonzentrierten Arsengehalt" in insgesamt 21 verschiedenen Haarproben nachgewiesen. Es gibt 31 Symptome einer Arsenvergiftung, die mit Magenkrebs nicht zusammenpassen, angefangen von Lichtempfindlichkeit über Taubheit bis hin zu starkem Anschwellen der Knöchel. Bei Magenkrebs magert man stetig ab, Napoleon quoll aber förmlich auf. Selbst einer der britischen Ärzte schreibt in seinem Autopsiebericht von "etwas Rätselhaftem", denn Napoleons Leiche sei "außergewöhnlich fett".
War Arsen 1821 schon nachweisbar?
Nein, erst 1836 wurde eine gerichtsmedizinisch anerkannte Methode entwickelt, eine akute Arsenvergiftung nachzuweisen. Eine chronische Arsenvergiftung, wie sie bei Napoleon vorlag, ist erst seit einer deutschen Studie von 1930 beweisbar.
Wer hätte ein Motiv gehabt, Napoleon schleichend zu vergiften?
Die Briten hätten ein Motiv gehabt. Denn die Bewachung Napoleons, für die allein 3000 Soldaten nach St. Helena entsandt worden waren, war sehr kostspielig. Aber die Briten waren es nicht.
Wer war es dann?
Es gibt nur eine einzige Person, die aus einem Dutzend von Gründen infrage kommt - Graf Charles-Tristan de Montholon, ein Adliger mit dubioser Biografie. Seine Familie hatte acht Jahrhunderte den französischen Königen gedient. Er selbst hat behauptet, an verschiedenen Schlachten Napoleons teilgenommen zu haben, was nachweislich nicht stimmt.
Wie kam Montholon nach St. Helena?
Nach Waterloo verbrachte Napoleon noch einige wenige Tage im Pariser Élysée-Palast. Dort bieten sich Montholon und dessen Frau an, Napoleon zu begleiten. Es sind chaotische Tage, aber es gelingt den beiden, in die Entourage aufgenommen zu werden und schließlich Napoleon auf dem Schiff nach St. Helena zu begleiten.
Montholon vermittelt seine eigene Frau in Napoleons Bett
Warum sollte Montholon Napoleon vergiftet haben?
Wohl aus einem der gängigsten Motive: Habgier. Das Ziel von Montholon war, in Napoleons Testament aufgenommen zu werden. Montholon war mittellos, er musste das Vertrauen und die Dankbarkeit Napoleons gewinnen. Das gelingt ihm mit hoher Systematik und katzbuckelndem Höflingtum. Als Napoleons den Wunsch nach einer Mätresse äußert, vermittelt Montholon seine eigene Frau in Napoleons Bett. Albine de Montholon hat sich die Liebesdienste übrigens von Beginn an sehr gut bezahlen lassen. Die Beziehung ist seit 1817 belegt, 1818 gebiert sie eine Tochter, die auf den Namen Josephine getauft wird. Mutter und Kind verlassen St. Helena im Juli 1819 aus vorgeblich gesundheitlichen Gründen, nur vier Wochen nach der Ankunft in Europa stirbt das kleine Mädchen durch "eine Entzündung im Unterleib". Offiziell war natürlich Montholon der Vater von Josephine, aber in Briefen an seine Frau geht er nach der Todesnachricht mit keinem einzigen Wort auf "sein" gestorbenes Kind ein, während er sich nach seinen beiden anderen leiblichen Kindern stets liebevoll erkundigt. Der echte Vater eines kleinen Kindes verhält sich so nicht.

Warum sollte Napoleon keinen Verdacht geschöpft haben?
Das hat er. 1820 sagt er zu einem britischen Arzt: "Ich werde von langer Hand umgebracht, Schritt für Schritt mit Vorbedacht." Allerdings hat er die Engländer für die Urheber gehalten.
Er speiste meist umgeben von seiner französischen Entourage. Warum erkrankte dann nur er?
Napoleon hatte einen Sicherheitschef, wie wir heute sagen würden. Der bricht 1818 mit Unterleibsschmerzen beim Abendessen plötzlich zusammen und stirbt 72 Stunden später. In derselben Woche sterben noch eine Kammerzofe Montholons und deren Kleinkind. Dazu klagen der Koch und der Zuckerbäcker über starke Unterleibsschmerzen. Montholon fand anschließend einen Weg, nur Napoleon zu erreichen: den Constantia-Wein vom Kap der Guten Hoffnung trank nur der Kaiser.
"Letztendliche Todesursache war ein Medikament namens Kalomel"
Angenommen, diese Deutung stimmt, war Montholon damit erfolgreich?
Im August 1819 wurde Montholon in Napoleons Testament aufgenommen mit 50.000 Francs. Am 15. April 1821 spürt Napoleon den nahenden Tod, lässt sein erstes Testament verbrennen und setzt eine neues auf. In der Neufassung wird Montholon mit zwei Millionen Francs bedacht - von vier Millionen, die es zu verteilen gibt. Er wird neben zwei anderen auch zum Testamentsvollstrecker erklärt.
Offiziell bleibt es aber bei der Diagnose Magenkrebs?
Die Magengeschwüre wurden 1819/20 durch die chronische Arseneinnahme ausgelöst. Aber weder Arsen noch der Magenkrebs waren die letztendliche Todesursache, das war ein Medikament namens Kalomel, das Napoleon am 3. Mai 1821 auf den Rat Montholons hin in zehnfach überhöhter Dosis bekommen hat. Der Leibarzt Francesco Antommarchi war gegen diese Dosis und konnte sich nur mit Mühe gegen die Verabreichung einer weiteren, zehnfach erhöhten Dosis wehren. Dieses Medikament gab dem bereits fundamental geschwächten Napoleon den letzten, todbringenden Stoß.