Thilo Sarrazin im Bayerischen Hof: Die Einigkeit der Elefanten

Im Bayerischen Hof diskutieren Autor Thilo Sarrazin, Oskar Lafontaine (Linke) und Peter Gauweiler (CSU) über Migration - ganz ohne Streit. Dass eine Zuhörerin einschläft, hat aber wohl andere Gründe.
Thomas Becker |
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Vor der Panorama-Glasfront im sechsten Stock des Hotels (v.l.): OskarLafontaine, Thilo Sarrazin und Peter Gauweiler.
Vor der Panorama-Glasfront im sechsten Stock des Hotels (v.l.): OskarLafontaine, Thilo Sarrazin und Peter Gauweiler. © Langen Müller Verlag

München - Als man vor der Veranstaltung im Bayerischen Hof sein Radl vor der Haustür absperrte und vorbei an der Taxler-Warteschlange Richtung Spätdienst marschierte, war einem noch nicht klar, wie gut einer dieser auf Kundschaft wartenden Herren in die folgenden zwei Stunden gepasst hätte.

Die Sprache in der da vor den Taxis geredet wurde, war schwer zu enträtseln, jedoch sicher nicht Deutsch - und allein das hätte jeden der Taxler schon qualifiziert als Mit-Diskutanten in der Elefantenrunde im sechsten Stock des Hotels.

Sarrazin, Lafontaine und Gauweiler - was für eine Runde!

Dort ging es in einem loungeartigen Raum mit fabelhaftem Blick auf die dezent angestrahlten Türme der Frauenkirche um das neue Buch des Vielschreibers Thilo Sarrazin.

Es trägt den doppeldeutigen Titel "Der Staat an seinen Grenzen", Untertitel: "Über Wirkung von Einwanderung in Geschichte und Gegenwart". Kein ganz neues Thema für den gänzlich nicht unumstrittenen Buchautoren.

Und obwohl er nach einigen Bestsellern samt diverser Scharmützel inklusive Parteiausschluss längst über einen Ruf wie Donnerhall verfügt, ließ es sich der Langen Müller Verlag nicht nehmen, den Absatz des neuen Opus mit einem "Salongespräch" (Geschäftsführer Michael Fleissner) noch ein wenig anzukurbeln.

Und so saßen da vor einem Dutzend Gäste und einer Handvoll Journalisten neben Sarrazin noch die politischen Ex-Schwergewichte Oskar Lafontaine und Peter Gauweiler - was für eine Runde!

Prickelndes Streitgespräch kam nicht zustande

Aber dennoch: Während der zwei Stunden Spielzeit hätte ein Taxler oder irgendein anderer Kontrapunkt dem Match schon sehr gut getan.

Das Problem an der prominent besetzten Runde war nämlich, dass sich die Herren in allzu vielen Bereichen doch recht einig waren. Spannung erzeugt eine solche Runde nun mal, wenn es Reibungspunkte gibt, und die waren leider rar gesät.

Dabei hätte das Thema Migration ja durchaus Raum und Anlass für die eine oder andere Kontroverse geboten. Und da sich Moderator Wladislaw Jachtchenko, ein Jurist und Politologe, weitgehend zurücknahm, die Mission-Statements abfragte und sich mit "Was würden Sie als Kanzler tun"-Szenarien beschied, kam ein prickelndes Streitgespräch nicht wirklich zustande.

Dass eine der Zuschauerinnen schon bei Lafontaines Eingangs-Statement einnickte, muss aber andere Gründe gehabt haben.

"Das ist jetzt keine Kritik", heißt es oft. Warum denn nicht?

223 Jahre brachte das Polit-Trio gemeinsam auf die Uhr - kein Wunder, dass sich der 35-jährige Moderator (immerhin mal Halbfinalist bei der Debattier-Europameisterschaft 2011 und 2015) nur selten traute, in den verbalen Infight mit den "Big Boys" zu gehen.

Auch untereinander gingen die Diskutanten geradezu zimperlich mit sich um. Bis auf Sarrazin und Gauweiler sind allesamt per Du, und so hieß es mehr als einmal beschwichtigend: "Das ist jetzt keine Kritik..."

Ja, warum denn nicht? Die Herren sind ja nun wahrlich nicht aus Zucker und nach vielen Jahren im Haifischbecken Politik durchaus Kummer und Widerspruch gewohnt.

Sarrazin: Auswanderung löst keine Probleme in den Herkunftsländer

Das Buch also: Auf 480 Seiten erklärt Sarrazin (75) wenig überraschend Europas Grenzen als überlebensnotwendig für den Fortbestand von Demokratie, Kultur und Gesellschaft in Europa. In seinen Augen ist Migration kein unaufhaltsames Schicksal, sondern kann und muss gesteuert werden. Auswanderung löse die Probleme in den Herkunftsländern nicht, schaffe aber neue Probleme in den Zielländern, so Sarrazin.

Konkrete Vorschläge hat er natürlich auch: wirksame Grenzkontrollen des Schengenraums, Anpassung des Asylrechts auf die Anforderungen der heutigen Zeit sowie effektive Bekämpfung der Fluchtursachen in den Heimatländern, Stichwort Geburtenkontrolle in vormodernen Gesellschaftsstrukturen.

Gerade zum Thema Bevölkerungsexplosion stellte er erstaunlich obskure Rechenbeispiele an. Aber: kein Widerspruch, nirgends.

Gauweiler will die Wiedereinführung der Wehrpflicht

Local Hero Peter Gauweiler (71) sah sich "allein unter zwei ehemalig weltberühmten Sozialdemokraten" und verlieh dem Abend in der ihm eigenen Art gleich mal eine eher wurschtig bis hemdsärmelige Note: "Sind wir Einwanderungsland oder nicht? Ich kann den Scheiß nicht mehr hören!" Einen starken Willen zum Vorurteil habe er bei diesem Thema schon seit den früher 70ern ausgemacht.

Sodann stellte er zwei Thesen, respektive Forderungen, vor: erstens die politischen Interventionen beenden und zweitens die Leute nach spätestens vier Wochen arbeiten lassen, zur Not in einer Art zivilem Ersatzdienst. Und wo er gerade dabei war: Die Wiedereinführung der Wehrpflicht sei ebenfalls geboten.

Und Lafontaine? Der 77-Jährige konstatierte, es gebe weder "eine Lösung, die sofort funktioniert" noch "eine Partei mit einer konsistenten Flüchtlingspolitik". Seiner Ansicht nach liege das eigentliche Problem im noch lange nicht überwundenen Kolonialismus. Die Politik müsse sich zudem "die moralische Legitimation verschaffen, auch unpopuläre Entscheidungen zu treffen", ohne die gehe es halt nicht, meinte der Fraktionsvorsitzende der Linken im Saarländischen Landtag.

Anerkennung zollte er dem Ex-Genossen Sarrazin für sein "beinahe sozialdemokratisches Plädoyer", als dieser vorschlug, Putzfrauen und Gärtner einfach besser zu bezahlen und dafür niemanden mehr ins Land zu lassen, der den Job für weniger Geld macht.

Auch dazu wäre die Meinung der Herren unten am Taxistand durchaus interessant gewesen.

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