Sie erhielt den Nobelpreis für Literatur: Der neue Roman von Han Kang
Schnee wirbelt durch diesen Roman, unaufhörlich, ob vor den Fenstern eines Krankenhauses in Seoul oder als Schneesturm auf der Insel Jeju im Südwesten der südkoreanischen Halbinsel. Die Leichtigkeit des Schnees, seine Farbe inspiriert die Ich-Erzählerin immer wieder zu Vergleichen, die sich im steten Kreiseln der Narration ähneln. Flocken fallen da "langsam wie Vogelfedern", an anderer Stelle "so, als ob unzählige weiße Vögel in völliger Stille gleichzeitig zu Boden segeln".
"Weiß" hat die frischgebackene Literaturnobelpreisträgerin Han Kang einen ihrer vorherigen Romane genannt. Die Kapitelüberschriften bezogen sich auf weiße Phänomene - darunter Schnee und weiße Vögel, aber auch Windeln und Brustmilch -, wobei die 54-jährige südkoreanische Schriftstellerin sich vor allem mit dem Tod ihrer älteren Schwester beschäftigte, die als Neugeborenes in den Armen der Mutter starb.
Wer stirbt, kann als Geist wiederkehren
Um Fragen des Verlustes, der Trauer und des Erinnerns dreht sich auch Han Kangs neuer Roman "Unmöglicher Abschied", der 2021 im koreanischen Original veröffentlicht wurde und jetzt noch vor Weihnachten in Deutschland erscheint. Der Titel verrät bereits, dass Abschiede nicht leicht und schon gar nicht final sind: Die Erinnerung an die Toten lässt sich in diesem Roman nicht abschütteln. Und wer stirbt, kann als Geist wiederkehren.
"Unmöglicher Abschied" heißt innerhalb des Romans ein Kunstprojekt, das die Ich-Erzählerin Gyeongha gemeinsam mit ihrer Freundin Inseon geplant hat. Beide lernten sich als Studentinnen in Seoul kennen; Gyeongha arbeitete nach ihrem Abschluss als Reporterin für ein Magazin, Inseon wurde ihr als Fotografin zur Seite gestellt.
Ein Kunstprojekt auf Eis
Als ihre Mutter zunehmend unter Demenz leidet, kehrt Inseon auf ihre Heimatinsel Jeju zurück, wo sie auch nach dem Tod der Mutter in einem Haus mit angedockter Werkstatt weiterwohnt. Gyeongha hat indessen im Rahmen ihres einsamen Großstadtlebens mit Depressionen zu kämpfen. Zudem wird sie von Alpträumen heimgesucht, in denen sie einen Berg voller eingeschneiter Baumstümpfe sieht, die sie an leicht gebeugte Menschen oder Grabsteine erinnern. Auch hier überlagert Han Kang gleich mehrere Bildebenen, um von einem kollektiven Trauma zu erzählen, das verschüttgegangen ist, sich aber Gyeongha im Traum aufdrängt.
Das Kunstprojekt mit 99 schwarz angemalten Baumstämmen, das Gyeongha zusammen mit Inseon verwirklichen will, liegt jahrelang auf Eis. Bis Gyeongha eine SMS bekommt: Ihre Freundin liegt nach einem Unfall in einer Klinik in Seoul. Dass Inseon mit der Verwirklichung des Projekts begann und sich dabei mit der Kreissäge zwei Fingerglieder abschnitt, weckt in Gyeongha ein Schuldgefühl, das sie umso mehr dazu bewegt, einer Bitte Inseons nachzukommen: Zwei weiße Papageien leisteten ihr auf der Insel Gesellschaft. Einer davon starb bereits; dem anderen droht nun ebenfalls der Tod, da er auf der Insel allein zurückgelassen wurde.

So fliegt Gyeongha nach Jeju - und gerät in einen Schneesturm, der angesichts seiner Ausmaße und des Detailreichtums von Han Kangs Beschreibungen an das berühmte "Schnee"-Kapitel in Thomas Manns "Zauberberg" erinnert. Ähnlich wie Hans Castorp gerät Gyeongha in einen todesnahen, traumähnlichen Zustand, der sich fortsetzt, als sie Inseons Inseldomizil erreicht. Dort wird sie gleich mehrfach mit Geistern konfrontiert, insbesondere den Geistern der Inselvergangenheit.
Anhand von Dokumenten, die Gyeongha in Inseons Haus findet, kann sie ein düsteres Kapitel der südkoreanischen Geschichte nachzeichnen: Kurz vor dem Koreakrieg, zwischen November 1948 und Januar 1949, ging das Militär unter Beihilfe der Polizei auf die Jagd nach möglichen Sympathisanten mit dem kommunistischen Feind und brachte dabei rund 30.000 Zivilisten auf der Insel um. Unter den Opfern war die Familie von Inseons Mutter. Die rebellierte gegen die Vertuschung durch den Staat und war federführend bei der beschwerlichen Suche nach den sterblichen Überresten der Ermordeten, die einst unter Schneeschichten begraben wurden.

Han Kang gräbt in ihrem Roman die Toten aus, streut (fiktive?) Zeugenberichte ein und leistet damit ähnlich wie ihre Protagonistinnen beherzte Gedächtnisarbeit. Der Roman entwickelt dabei eine spröde Poesie, ertrinkt manchmal im Schneefall der Metaphern, erzeugt aber gerade in der Beschreibung des Sturms und der Ereignisse in Inseons Haus eine geisterhaft-lyrische Atmosphäre, der man sich schwer entziehen kann. Zugleich zeichnet das Buch das berührende Porträt einer Freundschaft, die über verschiedene Orte, Zeiten und Daseinszustände Bestand hat.
"Flamme" lautet der Titel letzten Teils des Romans. Ähnlich beharrlich wie der Schnee in diesem Roman fällt, brennt gegen Ende eine Kerze, mit der Gyeongha durch Inseons Haus und einen Wald wandelt. Das Feuer bringt kleine Schneekristalle zum Schmelzen, kann aber von größeren Flocken ausgelöscht werden. Das Anzünden eines Streichholzes birgt die Möglichkeit, ähnlich wie dieser Roman Licht ins Dunkle zu bringen, wird zum Akt der Hoffnung.
Han Kang: "Unmöglicher Abschied" (Aufbau Verlag Berlin, 315 Seiten, 24 Euro)
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