Kritik

Roman von Natalie Buchholz: Eine Recherche über "Grand-papa"

Natalie Buchholz erforscht in "Grand-papa" ein düsteres Kapitel deutsch-französischer Beziehungen
Volker Isfort
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Natalie Buchholz
Peter von Felbert Natalie Buchholz

Im Alter von 15 Jahren erhielt Natalie Buchholz von ihrem französischen Großvater seine gebundenen "Mémoires", die Erinnerungen eines 70-Jährigen. Doch erst Jahrzehnte später macht sie sich als Schriftstellerin an die Arbeit herauszufinden, wer dieser Mann, der in ihrer Erinnerung immer so kühl und unnahbar auftrat, eigentlich gewesen ist. Denn die 250 von ihm selbst verfassten Seiten bieten kaum Einblick in sein Seelenleben. "Grand-papa" nennt Natalie Buchholz schlicht die Reise zurück in ihre Familiengeschichte, die ein bewegendes Schicksal in der blutigen deutsch-französischen Geschichte zutage fördert.

Am 11. November 1918 wird Anatole Frey als einziges Kind einer lothringischen Bauernfamilie geboren. Er habe keinerlei Ähnlichkeit mit seinem Vater, stellt er in seinen"Mémoires" fest. Ist das ein Hinweis auf das Familiengerücht, ein russischer Zwangsarbeiter auf

dem Hof sei der mögliche Vater?

Komische Elemene und zunehmende Dramatik

Natalie Buchholz bezeichnet ihre Recherche als Roman, weil sie sich die Freiheit nimmt, das Leben Anatoles poetisch auszumalen. Und wenn ihr beim fantasievollen Ausritt die Pferde durchgehen, lässt sie als Korrektiv die eigene Mutter auftreten, die ein paar Dinge wieder gerade rückt. Das sind die komischen Elemente in einem faszinierenden Roman, der mit jedem Kapitel an Dramatik gewinnt.

Der junge Anatole sieht seine Zukunft nicht auf dem Hof. Er will Pfarrer werden und wird ins 120 Kilometer entfernten Cuvry zu den Lazaristen geschickt. Erst hier legt er sein lothringer Déitsch ab und lernt Französisch, die Sprache, mit der er sich identifizieren wird.

Mit 19 Jahre ändert er seine Lebensplanung und geht später zur französischen Artillerie, um Frankreich in einem drohenden Krieg zu verteidigen. Doch nach sieben Monaten Ausbildung muss er die Uniform ablegen, Frankreich ist besiegt, ohne dass er zum Einsatz kam.

Die Nazis stufen ihn als "regermanisierbar" ein und klauen ihm zwei Buchstaben. Im Zuge der "Entwelschungskampagne" wir aus Anatole Frey nun Anatol Frei. Sein Hass auf die Deutschen ist schon so entwickelt, dass er der Saarländerin Henni, mit der er intensiv Brief schreibt, mitteilt, mit ihr keine offizielle Beziehung eingehen zu können, wegen seiner "persönlichen inneren Haltung als Lothringer". Sie wird dennoch nie aus seinem Leben verschwinden, auch nachdem er eine andere Frau heiratet. Hat er seine wahre Liebe wegen seiner Haltung geopfert? In Briefen entdeckt Natalie Buchholz auch eine andere Seite des Großvaters.

Ab August 1942 wird die Wehrpflicht für alle Elsässer und Lothringer eingeführt. Freiwillig hatten sich nur wenige gemeldet, nun müssen rund 130.000 Männer aus diesen Landstrichen für die Wehrmacht kämpfen, die meisten später an der Ostfront, wo rund 40.000 ihr Leben verlieren. Anatole ist an der Ostsee stationiert und entkommt dem Einsatz an der Ostfront nur durch einen Freund, der ihn von der Liste streicht.

Generalamnestie für Verbrecher

Natalie Buchholz erinnert auch an das Massaker Oradour-sur-Glane, bei dem SS-Soldaten und 13 zwangsrekrutierte Elsässer im Juni 1944 über 600 französische Zivilisten töteten. Ein Kapitel deutscher Geschichte, das hierzulande völlig vergessen wurde, in Frankreich aber ein Politikum blieb, als parallel zum Prozess über die Verantwortlichen des Massakers die Zwangsrekrutierten in den 50er Jahren Generalamnestie erhielten. Anatole bleibt von solchem Grauen verschont, aber auch er sieht Dutzende sterben, als seine Einheit von einer Fliegerstaffel angegriffen wird.

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Das Kriegsende erlebt er in Skandinavien, bald darf er zurück nach Lothringen, im Bewusstsein, dass die Deutschen sein Leben zerstört haben.

Als seine Tochter, die Mutter der Autorin, ihm ein gutes Vierteljahrhundert später ihren künftigen Mann, einen Deutschen, vorstellt, nimmt er diesen beiseite und sagt: "Meine Tochter hätte jeden mitbringen können, einen Schwarzen, einen Gelben, einen Roten, einen Juden. Aber keinen Deutschen." Verzeihen wird er ihr das nie vollständig. Der Krieg hinterlässt auch in der nächsten Generation emotionale Wunden.

Natalie Buchholz stellt "Grand-papa" (Penguin, 256 Seiten, 24 Euro) am 19. September, 19.30 Uhr bei Buch & Bohne vor (Kapuzinerplatz 4, Häberlstrasse) vor, kontakt@buchbohne.de

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