Kritik

Lebenstragödien in Skizzen

Als Seelenforscherin bei Gericht: Yasmina Reza untersucht in ihrem neuen Buch "Die Rückseite des Lebens"
Roberta De Righi |
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Die französische Schriftstellerin Yasmina Reza.
Die französische Schriftstellerin Yasmina Reza. © Britta Pedersen/dpa

Yasmina Reza ist eine, die auszog, das Fürchten zu lernen: Seit Jahren besucht sie in Frankreich Strafprozesse. In ihrem neuen Buch "Die Rückseite des Lebens" hält sie Figurenkonstellationen, Lebenstragödien und Randbeobachtungen bei Gericht fest.

So ist es eher eine Sammlung von Skizzen als von Erzählungen. Die Theaterautorin ("Der Gott des Gemetzels") und Schriftstellerin ("Serge") bringt kurze Szenen zu Papier, die unter die Haut gehen. Es geht um Mord, Vergewaltigung, schwer gestörte Verhaltensweisen in dysfunktionalen Beziehungen. Und um ausweglose Situationen totaler Überforderung, schieres Unglück.

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Eine junge Mutter, die ihr kleines Mädchen am Strand aussetzt, damit es vom Meer verschluckt wird. Eine andere Mutter, die ihre schwerstbehinderte Tochter und sich selbst umbringen will. Reza skelettiert die Fälle nicht ganz so weit wie ihr deutscher Kollege Ferdinand von Schirach. Als Seelenforscherin hat sie ein bisschen mehr Empathie. Sie schaut auf die Menschen abseits von Klischee und Rolle, die Medien, Gericht und Publikum für sie vorsehen. Es ist nicht die Schuldfrage, die sie antreibt. Sie will verstehen, wie es dazu kommen kann.

Reza beobachten den Prozess um den Ex-Präsident Nicolas Sarkozy 

Die sogenannte "Normalität" ist hier der Glücksfall. Auch wenn nicht alle Fälle so spektakulär sind wie der einer Frau, die ihren tyrannischen, alkoholkranken Mann erschießt, die verwesende Leiche mehrfach umbettet und schließlich einbetoniert. Reza hat dabei Details im Blick, die wie sprechende Requisiten sind: Etwa eine liegengelassene Taschentuchpackung als Symbol der unüberwindbaren Kluft zwischen zwei Frauen. Die Tochter eines Angeklagten will nicht wahrhaben, dass ihr Vater die Andere als Lockvogel für einen Mord beauftragt hat.

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Und bei der Charakterisierung ihres deutschen Agenten ist eine Herren-Handtasche nicht unwesentlich. Denn nicht nur Unordnung und Leid sind hier zu finden, sondern auch einige persönliche Erinnerungen. Sie tuscht gar filigrane Miniaturen des Glücks aufs Papier, etwa wenn eine alte Freundin unvermittelt zu singen beginnt.

Die Menschen sind Figuren in einem großen Spiel 

Und übt sich in Selbstironie wie in der Momentaufnahme bei Roberto Calasso, der ihre Bücher in Italien herausgab, aber sich im Gespräch mit der Autorin allzu offensichtlich langweilte. Da verlässt sie den erhobenen Standpunkt der Schreibenden, die auf die Menschen wie Figuren im großen Spiel schaut.

Auch Ex-Präsident Nicolas Sarkozy (der als Innenminister die brennenden Vorstädte "mit dem Kärcher reinigen" wollte) kommt vor: Den Mitte-Rechts-Politiker, der von 2007 bis 2012 regierte, hatte Yasmina Reza 2006 in seinem Wahlkampf porträtiert. Pikanterweise schildert sie in "Die Rückseite des Lebens" Verhandlungen in ebenjenem Verfahren wegen Korruption, in dem Sarkozy Ende 2024 zum einjährigen Tragen einer Fußfessel verurteilt wurde.

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2014 hatte er über seinen Anwalt versucht, von einem Juristen Ermittlungsgeheimnisse zu erhalten. Als Lohn wurde jenem Unterstützung bei der Bewerbung um einen Posten angeboten. Es kam nicht dazu. Das Verhalten aber habe die Unabhängigkeit der Justiz gefährdet, argumentierte die Anklage. Für Reza bleibt die Angelegenheit eine Nichtigkeit. Sarkozy ("ein Angstgestörter") kommt bei ihr befremdlich milde weg.

Manchmal überwiegt die Fassungslosigkeit

Sonst schreibt sie durchaus spitzfindig über die männliche Fähigkeit, sich noch in der eindeutigsten Opfer-Täter-Konstellation als Opfer der Umstände zu stilisieren: So wie der scheinbar selbstlose Ersatz-Neffe, der jeweils eine einsame alte Dame um den Finger wickelte, sich deren Erbe sicherte und sie dann mit Atropin vergiftete. Da liegt zwischen den Zeilen Verachtung.

Manchmal aber teilt die Beobachterin einfach ihre Fassungslosigkeit. So wie in "Monsieur Louette": Ein alleinstehender Mann, der bei seinen Eltern wohnt und jeden Tag drei Stunden einfach zu seiner Arbeit als Drucker fährt. Vor Gericht steht er wegen unterlassener Hilfeleistung, weil er bei der tödlichen Misshandlung eines Obdachlosen nicht die Polizei rief. Es ist die Geschichte von einem, der so sehr gewohnt ist, nicht als Mensch wahrgenommen zu werden, dass er nicht mehr als Mensch handeln kann.

Yasmina Reza stellt "Die Rückseite des Lebens" (Hanser, 256 Seiten, 25 Euro) am Mittwoch, 2. April um 19.30 Uhr im Residenztheater vor; Karten unter
tickets.staatstheater.bayern

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