Kritik

Jenseits aller Schubladen: "Mein Leben unter den Großen"

Das heitere Erinnerungsbuch von Madame Nielsen
Michael Stadler |
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Madame Nielsen.
Dirk Skiba. 4 Madame Nielsen.
Madame Nielsen.
Sofie Amalie Klougart, 4 Madame Nielsen.
Madame Nielsen in der Talkshow "Kölner Treff":
imago images/Rainer Unkel 4 Madame Nielsen in der Talkshow "Kölner Treff":
Madame Nielsen in "Very Rich Angels" in den Kammerspielen.
4 Madame Nielsen in "Very Rich Angels" in den Kammerspielen.

Nein, literarische Erweckungserlebnisse kann man nicht planen, sondern sie überfallen einen beim Lesen, unverhofft und im Falle von Madame Nielsen, die einst mal Claus Beck-Nielsen hieß, sogar schockartig. Und nein, nicht das sprachlich Ausgefeilte, sich plötzlich einstellende Erhabene überwältigt den jungen Claus, als er den Roman "Der Gang der Tage" seines dänischen Landmanns Jens Christian Grøndahl liest, sondern der Moment, als der Held von Grøndahls Geschichte in Hundescheiße tritt.

Denn bei allem Ekel erkennt der empathisch lesende Claus, dass die fäkale Episode gerade in ihrer Alltäglichkeit großartig ist. Wer wie Jens Christian Grøndahl das Zeug zum möglichen Nobelpreisträger haben will, sollte eben den Mut haben, die Erwartungen seiner Leserschaft zu enttäuschen und mitunter das "Schlimmstvorstellbare" zu beschreiben: "Das Banale, Peinliche, es klebt dir an den Schuhen", schreibt Nielsen. "Es ist unpassend, übelriechend, ja, aber so ist das Leben!"

Ein Musical für die Kammerspiele

Was Madame Nielsen hier voller Emphase feststellt, kann man als Schlüssel für ihre eigene Kunst empfinden. Mit Bestsellern wie "Der endlose Sommer" ist sie auch in Deutschland bekannt geworden, in München lernt man sie gerade mit dem intergalaktischen Musical "Very Rich Angels" in den Kammerspielen noch näher, auch als Performerin, kennen. Bill Gates, Mark Zuckerberg und Elon Musk fliegen in Nielsens Stück zum Mars, Mark Zuckerberg hängt zwischendurch wie Jesus am Kreuz und Wladimir Putin tritt als gar nicht mal so unmenschlicher Typ auf, der dann doch nicht mitreisen darf.

Ein bisschen Hundescheiße klebt bildlich gesprochen an jedermanns Schuhen, Bill Gates träumt gar davon, die Welt mit seinem "Smart Toilets" zu beglücken. Politisches Theater darf nicht bequem sein, sondern soll beunruhigen und aufrütteln, findet Madame Nielsen. Als Performerin, Schauspielerin, Komponistin, Sängerin und vor allem als Autorin hat sie sich international einen Namen gemacht - einen Namen, den sie mitsamt Geschlechtszuordnung gerne nach ihrem Belieben verändert, weil sie sich selbst als Lebewesen versteht, das in keine Schublade passt und auch nicht passen will.

Ein Mensch

Seine männliche Identität ließ Claus Beck-Nielsen einst im Rahmen einer aufwendigen Aktion seines Kunst-Unternehmens "Das Beckwerk" sterben: Eine lebensechte Claus-Puppe lag sieben Tage lang, von Krankenschwestern umsorgt, nahe eines Kopenhagener Museums ausgestellt auf einem Leichenbett, wurde am 11. September 2001 für tot erklärt und in einem Sarg zu einem öffentlichen Begräbnis getragen. Unter den Sargträgern, so erzählt Nielsen heute, war Schauspieler Mads Mikkelsen. Rund 1500 Menschen wohnten der Sarg-Tour zum Assistenzfriedhof im Kopenhagener Stadtteil Nørrebro bei.

2011 schloss "Das Beckwerk" seine künstlerischen Tore, der einst männliche Körper erlebte seine Wiederauferstehung: Madame Nielsen ward geboren, wobei auch diese Identität niemals zur Komfortzone werden dürfe, "Ob ich ein Mensch bin, ein Mann oder eine Frau - solche Einordnungen müssen immer in Frage gestellt werden. Wenn es mir als Madame Nielsen allzu gemütlich wird, wird es Zeit, dass ich wieder etwas anderes werde, vielleicht ein Insekt oder ein Vogel."

Ein Gefühl von Fliegen ergibt sich auch beim Lesen ihres autofiktionalen Buches "Mein Leben unter den Großen" - so leicht und locker beschreibt sie in 13 Kapiteln von ihren realen (oder imaginierten?) Begegnungen mit bekannten Schriftstellern.

Trotz möglicher Unkenntnisse folgt man Madame Nielsen gerne in ihr Erinnerungsbuch: wie sie einzelne Autorinnen und Autoren flüchtig oder intensiver kennenlernte, wie das literarische Wirken der "Großen" sie beeindruckte und in ihrem eigenen Schaffen beeinflusste. Einen Blick auf das Autorenbild von Peter Høeg, gedruckt über einem Artikel des Kulturteils der Tageszeitung "Politiken", erhaschte der kleine Claus etwa bei einer Autofahrt mit seinen Eltern, die Zeitung zunächst auf dem Schoss der Mutter, dann des lesenden Sohnes: ein mehrfacher Geburtsmoment. In dem Artikel beschrieb Høeg, wie er zum Schriftsteller wurde - für Claus die Inspiration, selbst eine solche Karriere anzustreben.

Mit Lust am kuriosen Detail

"Mein Leben unter den Großen" zeichnet wie nebenbei die Genese der Künstlerin Madame Nielsen nach: wie sie - damals noch er - in einem "Dienstmädchenkämmerchen" in Kopenhagen lebte, erste Gedichte an eine Literaturzeitschrift schickte (zwei von ihnen wurden gedruckt) und die Künstler-Bohème in den Cafés und Kneipen kennenlernte. Per Zufall feierte sie gar den 58. Geburtstag des bekannten Herausgebers, Dichters und Literaturkritikers Poul Borum mit. Diese Erlebnisse beschreibt sie wunderbar plastisch, mit Lust am kuriosen Detail und einer Ironie, die auch mal scharf werden kann.

"Wir Engel sind nicht immer lieb" lautet der Titel eines Kapitels, in dem Madame Nielsen vom Horror der Empfänge, zu denen sie eingeladen ist, erzählt. Autoren, Verleger und Kritiker betrinken sich bei solchen Festen gemeinsam, die Großen wirken eher lächerlich groß, "stehen auf den Tischen und beugen sich übereinander und rufen oder flüstern oder lallen bloß mit rotweingeräderten Augen und schlaffen Lippen und dem wahrscheinlich achten Glas Wein, das ihnen über den Handrücken schwappt und das Kleid der Person runterkleckert, die sie zufällig gerade anatmen."

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Das Theater ist bei solchen Beschreibungen nicht weit. Wer Madame Nielsen live erleben möchte, gehe in die Kammerspiele. Wer mehr über ihren Werdegang erfahren möchte, lese das Buch. "Für einen großen Schriftsteller haben alle Dinge eine Bedeutung, auch die kleinsten", schreibt sie gegen Ende. Und hat zuvor selbst den kleinsten Dingen Beachtung geschenkt.

Madame Nielsen: "Mein Leben unter den Großen" (KiWi, 224 Seiten, 24 Euro). "Very Rich Angels" ist in den Kammerspielen zu sehen

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