Kritik

Gewagt: Annegret Liepolds Debütroman „Unter Grund“

Der Roman der in Nürnberg geborenen und in München lebenden Autorin beschreibt ein Abrutschen nach rechts
von  Michael Stadler
Die Schriftstellerin Annegret Liepold.
Die Schriftstellerin Annegret Liepold. © Daniela Pfeil

Wer schweigt, hat vermutlich etwas zu verbergen. Über drei Jahre lang sagte Beate Zschäpe während des NSU-Prozesses im Münchner Oberlandesgericht kein Wort. Als sie ihr Schweigen brach, brachte das die Wahrheitsfindung kein Stück weiter. „Anstatt die Taten aufzuklären, hat sie sich selbst mitleidig in Ausreden geflüchtet“, heißt es in Annegret Liepolds Roman „Unter Grund“.

Der Satz lässt sich Franka zuordnen, der Hauptfigur des Buchs, deren Perspektive Liepold im etwas distanzierteren, personalen Erzählstil einnimmt. In Zschäpes Schweigen sieht Franka ihr eigenes Schweigen gespiegelt: Sie selbst spricht über ihre Vergangenheit nicht, was die Freundschaft zu ihrer WG-Mitbewohnerin Hannah stark belastet. Franka ist Referendarin an einer Münchner Schule. Hannah arbeitet als Journalistin und schlägt Franka vor, dass sie mit ihrer Klasse für einen Tag dem NSU-Prozess beiwohnt, über den Hannah gerade ausführlich berichtet.

Als ein Schüler Zschäpe als „Nazischlampe“ bezeichnet, triggert das Franka unverhofft stark und löst in ihr den spontanen Beschluss aus, ihre Freundin Hannah, die Wohngemeinschaft, ja, München zu verlassen, um in ihr Heimatdorf in der fränkischen Region Aischgrund zurückzukehren. Dort sieht sie ihre Mutter Ingrid und ihre kettenrauchende Tante Jutta wieder.

Die Topografie eines Dorfs

Das Motiv der Heimkehr kennt man unter anderem von Krimis. Auch Liepolds Roman hat einen kriminologischen Einschlag, wird Franka doch in ihrer Heimat mit Spuren der Vergangenheit konfrontiert, die sie wie eine Detektivin sammelt, um letztlich Geschehnisse aus ihrer Jugend aufzuarbeiten. Dabei hat sie gegenüber der Leserschaft einen Wissensvorsprung, den Liepold gekonnt mit fortschreitender Handlung und mittels eingestreuter Flashbacks schrumpfen lässt.

Gleichzeitig erstellt die in Nürnberg geborene, in München lebende Autorin wie nebenbei die Topografie eines westdeutschen Dorfs, in dem einerseits die Zeit still zu stehen scheint, sich andererseits ständig etwas verändert. Ob eine Umgehungsstraße um das Dorf gebaut wird, hat Franka schon als Teenager beschäftigt. Ihre Sorge um das Naturschutzgebiet, das das Dorf umgibt, war dabei auch persönlich motiviert, denn ihrem verstorbenen Vater gehörte ein Waldgrundstück mitsamt Weiher, das Frankas Mutter mittlerweile eigenmächtig verkauft hat.

Im Oberlandesgericht in München fand der Przess gegen Beate Zschäpe statt.
Im Oberlandesgericht in München fand der Przess gegen Beate Zschäpe statt. © picture alliance/dpa

Frankas Heimkehr führt zu einer äußeren wie inneren Recherche, die sie zu den Wohnräumen ihrer Familie führt, aber auch zum alten Supermarktgebäude, an dessen Front vor Jahren ein Graffiti stand: „Franka = Nazischlampe“. Wer einst das Graffiti sprühte, gehört zu den überraschenden Wendungen des Buches. Vor allem ergründet Annegret Liepold in ihrem Romandebüt, wie es dazu kommen kann, dass eine junge Frau wie Franka in die rechtsradikale Szene abdriftet.

„Am liebsten ist mir, alles bleibt so, wie es ist.“

Es ist ein schleichender Prozess, dessen Rahmenbedingungen Liepold auf den ersten hundert Seiten sorgfältig umreißt. So ist die Schulzeit für Franka, die später wie zum Trotz Lehrerin werden will, hart. Trotz schlechter Noten bleibt sie auf dem Gymnasium, muss dann die elfte Klasse wiederholen. Mit dem Tod des Vaters verliert sie früh eine zentrale Bezugsperson. Frankas Großmutter, genannt „Die Füchsin“, wird zunehmend dement, hat Franka zuvor mit harter Hand miterzogen. „Das haben wir immer schon so gemacht“, war ihr Leitspruch. Ähnlich konservativ ist nun Franka. „Ich glaube, ich habe eher Angst, wenn sich etwas verändert“, sagt sie einmal zu ihrem Klassenkameraden Leo. „Am liebsten ist mir, alles bleibt so, wie es ist.“

Ein Gefühl von Kontinuität, von Sicherheit stellt sich jedoch nicht ein. Nachdem Leo bei einem Kuss-Versuch von Franka abgewiesen wird, beginnt er sich verstärkt für ein anderes Mädchen in der Klasse zu interessieren, was Franka noch offener für neue Einflüsse macht. Eines Nachts lässt sie sich spontan von einem Mitschüler, Patrick, auf eine NPD-Versammlung mitnehmen, lernt in derselben Nacht einige Jugendliche kennen, die im alten Stall eines Bauernhofs abhängen. Mit der rotzigen Janna und dem rechtsaktivistisch gesinnten Patrick freundet Franka sich an.

Der Tod lauert überall

Liepold siedelt diesen Teil des Romans bewusst im Sommer 2006 an, als in Deutschland die Fußball-WM gefeiert wurde und Schwarz-Rot-Gold überall zu sehen war. Der Ernst, mit dem Patrick bei einem Public-Viewing-Event die Deutschland-Hymne singt, imponiert Franka. Schritt für Schritt wird sie Teil der jugendlichen Neonazi-Gruppe, bis sie sogar an rechtsradikalen Aktionen teilnimmt und selbst vor Gewalt nicht zurückschreckt.

Der Roman ist klar und klug konstruiert, aber Liepold nimmt sich auch Raum für Abschweifungen. Das Dorfleben beschreibt sie in seiner ganzen Schönheit und Tristesse, malt die alljährlich im Juli stattfindende Kirchweih, bei der das Dorf zum Feiern zusammenkommt, detailfreudig, mit Lust am Morbiden aus.

Der Tod lauert überall in diesem Roman, die Schrecken der Nazizeit, auch im Haus der Oma, dem Fuchsbau. Welche Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Frankas Familie begangen wurden, kommt gegen Ende ans Licht. Zuvor gibt es auch auf der Gegenwartsebene des Romans Momente, in denen Franka mit rassistischen, antisemitischen Bemerkungen konfrontiert wird.

Liepold gelingt es, auch all das, was wohl imaginiert ist, authentisch wirken zu lassen. Und riskiert dabei, den Reiz, den die rechtsradikale Szene auf manche ausüben mag, spürbar zu machen. Zeitweise fühlt Franka sich im Neonazi-Umfeld von Patrick und Janna gut aufgehoben, lässt sich in ein Dunkel ziehen, dessen Ausmaße sie erst im Rückblick richtig begreift.

Was auch heute in Deutschland mehr oder minder im Untergrund rumort, bringt Annegret Liepold mutig zur Sprache.

Annegret Liepold: „Unter Grund“ (Blessing-Verlag, 256 Seiten, 24 Euro)

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