Frauen werden unabhängiger
Den Findelkindern, deren Unglück die eigenen liederlichen Eltern verschuldet hatten, half kein Heiliger Geist. Niemand hatte sie je gewollt." Nina, die Heldin in Simona Baldellis Roman "Die geheimnisvolle Freundin" ist so ein Findelkind. Im Dezember 1945 hatte Schwester Immacolata den Säugling, fiebrig und blau angelaufen, vor der Tür des Waisenhauses gefunden.
Die in Rom lebende Autorin, 1963 in Pesaro geboren, bekam für das Buch 2023 Italiens etwas altmodisch definierten "Literaturpreis für die schreibende Frau". Sie erzählt darin eine mitreißende Geschichte, die auf wahren Begebenheiten basiert. Denn in der Hierarchie des Waisenhauses kommen weibliche Findelkinder an letzter Stelle. Nach jenen, die ihre Eltern durch ein Unglück verloren haben, und nach den Jungen. Und abgesehen von Immacolata bleibt bei den Klosterschwestern, die sich um die Kinder kümmern, die Barmherzigkeit oft eine bloße Behauptung.
Der "Tag der Besichtigung"
Der Roman spielt in einer Kleinstadt in den Abruzzen in der Nachkriegszeit. Für Nina sind Waisenhaus und Kloster die ganze Welt. Baldelli schafft es, für das innere Erleben der Heranwachsenden in den verschiedenen Altersstufen stets den treffenden Ton zu finden. Was auch darin liegen mag, dass zum Teil eigene Erlebnisse einflossen.
Höhepunkt des Jahres ist der "Tag der Besichtigung": Wenn die Waisen herausgeputzt werden, um sie potenziellen Adoptiveltern im besten Licht präsentieren. Und der für die meisten mit unfassbarer Enttäuschung endet.
Enttäuschte Träume
Ninas Geschichte wird mit einigen Zeitsprüngen erzählt. In schlaflosen Nächten sieht sie Frauen mit dickem Bauch vor dem Kloster stehen. Sie schleicht an Zimmern vorbei, aus denen man Schreie hört. Und stößt im Keller auf einen dunklen Schacht, in dem Kinder geboren werden - oder Abtreibungen vorgenommen.
"Je größer deine Träume sind, umso schlimmer kannst du enttäuscht werden. Wenn du nicht verzweifeln willst, darfst du niemanden in dein Herz lassen." Dieses Versprechen nimmt die acht Jahre ältere Marcella Nina ab. Anders als die manipulative Lucia erweist sich Marcella aber als wahre Freundin. Als Arbeiterinnen in einer Tabakfabrik gewinnen die beiden gemeinsam später ein Stück Unabhängigkeit.
Frauen treten in Streik
Ein Knochenjob, der mit starken gesundheitlichen Beeinträchtigungen und gesellschaftlichen Anfeindungen einhergeht. Weibliche Lebensrealität wird in "Meine geheimnisvolle Freundin" so veristisch hart dargestellt wie jüngst im Kinoerfolg "Morgen ist auch noch ein Tag".
Doch als die Fabrik von der Schließung bedroht ist, treten die Frauen in einen unbefristeten Streik - und haben bald das ganze Land auf ihrer Seite. Die Schilderung von Solidarität und Zusammenhalt ist die stärkste Partie des Buches. Der erfolgreiche Aufstand der Tabakarbeiterinnen in Lanciano bewegte auch in Wirklichkeit damals ganz Italien.
"Die geheimnisvolle Freundin" ist ein mit schnörkelloser, präziser Sprache und dialogreicher Erzählweise packendes Buch, dessen Themen unvermindert aktuell sind: Italiens rechte Ministerpräsidentin Giorgia Meloni ist eine strikte Abtreibungsgegnerin und will eine neue Beratungsregelung einführen, die den Frauen die Entscheidung - trotz des Rechts auf Abtreibung bis zur 12. Woche - in Zukunft noch schwerer machen soll.
Unbedingt lesenswert
"Denk nicht schlecht über sie, und zieh nicht mit den anderen über sie her. Verurteile sie nicht", lässt die zart-zähe Immacolata Nina schwören, als diese Zeugin einer heimlichen Geburt wird. Der italienische Originaltitel "Il pozzo delle bambole" ("Der Puppenschacht") deutet das Thema bildhaft an. Der Versuch, durch den deutschen Titel das Lesepublikum mit dem Anklang an Elena Ferrantes "Meine geniale Freundin" zu kapern, ist dabei so simpel wie ärgerlich. Mit Ferrante hat Baldellis Buch weder stilistisch noch inhaltlich größere Übereinstimmungen, wenn man vom Thema einer Frauenfreundschaft im Nachkriegsitalien absieht. Vielmehr noch feiert es weibliche Solidarität und ist unbedingt lesenswert.
Simona Baldelli: "Die geheimnisvolle Freundin" (Eichborn, 399 S., 22 Euro)
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