Kritik

Russischer Revolutionsführer hat zu viele Drinks intus: Buch "Moscow Mule" über Studentenleben im Russland der Nullerjahre

Das Debüt der in Moskau geborenen und in Leipzig ausgebildeten Schriftstellerin erzählt vom wilden Studentinnenleben im Russland der Nullerjahre.
Robert Braunmüller
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Die Autorin Maya Rosa
Die Autorin Maya Rosa © Peter Rigaud
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Der Anfang beherzigt die Hollywood-Regel, man möge mit dem Weltuntergang beginnen und dann langsam steigern: Zwei junge Damen beschäftigen sich auf einer weißen Ledercouch sehr intensiv mit einem jungen Mann. Doch vergebens. Er bleibt unerregt und unerregbar wie der "einbalsamierte Lenin", weil er zu viele Drinks intus hat.

Der russische Revolutionsführer samt heftig geflossenem Alkohol liefert allen, die womöglich den Buchtitel "Moskau Mule" überlesen haben, einen wichtigen Hinweis auf den Schauplatz des Romans. Und die Erwähnung der 2006 ermordeten Journalistin Anna Politkowskaja erlaubt die zeitliche Einordnung in die Nullerjahre des zweiten Tschetschenienkriegs und der zweiten, zunehmend diktatorischeren Amtszeit des Staatspräsidenten, der das Amt auch heute noch innehat – eine turbulente Zeit, die wegen des Aufstiegs vieler Neureicher rückblickend als Belle Epoque Russlands gilt.

Blumen vor dem Haus, das die ermordete Journalistin Anna Politkowskaya bewohnte.
Blumen vor dem Haus, das die ermordete Journalistin Anna Politkowskaya bewohnte. © picture-alliance/ dpa

Ein politischer Roman ist das Debüt der 1987 in Moskau geborenen und seit 2011 in Deutschland lebenden Maya Rosa dennoch nicht. Es geht wieder mal um das bei Erst-Büchern offenbar unvermeidliche, autobiografisch gefärbte "Coming-of-age": Zwei anfangs unzertrennliche Studentinnen werden mit Getöse erwachsen. Sie teilen sich Männer, setzen ihre Reize strategisch ein und wären im patriarchalischen Russland mit seinen reaktionären Geschlechterrollen gerne so emanzipiert wie ihre Altersgenossinnen im Westen.

Buch "Moscow Mule": Berlin isst Currywurst

Und da will die Ich-Erzählerin Karina sowieso hin. Sie studiert politischen Journalismus, obwohl der in Russland keine Zukunft hat und sie sich für Politik nur bedingt interessiert. Weil die Chancen für ein Auslandsstipendium dort größer scheinen, wechselt sie in die philologische Fakultät. Ein deutscher Austauschstudent verhilft ihr zu einem Erst-Visum für Berlin. Dort überrascht sie die legale Prostitution, dass die Leute unter einer Brücke Currywurst essen und man überall mit Hunden und Eis reingehen darf.

"Die Menschen halten nie ihren Mund zu, wenn sie gähnen, und sie trinken tagsüber Bier und sind dabei nicht mal obdachlos, glaube ich", so die Ich-Erzählerin über Berlin. In diesem Plapper-Ton ist das ganze Buch gehalten. Die vielen Partys könnten auch in jedem anderen Campus-Roman vorkommen, das russische Milieu mit voll besetzten Vorortzügen, engen Wohnungen in verfallenden Plattenbauten und dem exzessiven Luxuskonsum postsowjetischer Parvenüs, von deren Kuchen die beiden Frauen ein Stück abhaben wollen, berührt die Substanz der letztendlich belanglosen Geschichte kaum: Es bleibt Lokalkolorit.

Ein Polizist im Haus, das Anna Politkowskaja bewohnte.
Ein Polizist im Haus, das Anna Politkowskaja bewohnte. © picture-alliance/ dpa

Karina versucht sich als Model und tanzt für ein Musikvideo. Stipendien werden verprasst. Wenn Geld nötig ist, hilft eine taffe Oma aus. Die Kritik am politischen System bleibt durchwegs atmosphärisch, dass die Autorin gleich auf den ersten Seiten eine Vorausdeutung auf die noch nicht offensichtliche, heute aber deutliche nationalistische bis faschistische Schlagseite des Regimes eingebaut hat, wirkt mehr als Pflichtübung. Und in ähnlich oberflächlicher Weise verstehen die beiden Freundinnen auch den Feminismus mehr als eine Spielart von Konsum.

Dank zwei Gläsern Schnaps nach Deutschland

Gegen Ende leben sich Karina und die etwas blass bleibende Tonya auseinander. Nach dem Motto „Das Universum liebt Idioten“ schafft es die Heldin, ein DAAD-Stipendium zu ergattern, indem sie ein Forschungsprojekt vorstellt, über das der Leser nur erfährt, dass die Präsentation vor einer Jury dank zweier Gläsern Becherovka erfolgreich verlaufen ist.

Das Buch brilliert mit witzigen Sprachbildern, aber die beste Pointe steht wohl in der abschließenden Danksagung: "Lieber Herr Prof. Dr. Burschel, danke, dass Sie so explizit bei meiner Masterarbeit über Ludwig XIV. gegähnt haben, sonst hätte ich vielleicht nie mit der Schriftstellerei angefangen."

Daran ist viel Wahres. Schreiben hat Maya Rosa am Leipziger Literaturinstitut gelernt. Und das sogar sehr gut. Aber über das Russland der Nullerjahre als (möglicher) Vorgeschichte für die Gegenwart erfahren wir nicht mehr als in einer 10-minütigen Auslandsreportage.

Coming-of-Age-Bücher sind auch keine Marktlücke, sondern eine Konvention. Weshalb das gut lesbare Buch mangels inhaltlicher Substanz den Leser so wenig erregt wie die nackte Frauenhaut den Betrunkenen auf den ersten Seiten und letztendlich Gähnen auslöst – wie die Masterarbeit der Autorin bei ihrem Professor.

Maya Rosa: „Moscow Mule“ (Penguin, 320 S., 24 Euro)

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