Ein Krimi im Manga-Stil: "Der verkehrte Himmel" von Mikael Ross

"Die Frühlingsdämmerung strömt sanft herein, leicht, ungetrübt von weltlichem Staub… in den Pfützen spiegelt sich der verkehrte Himmel. Der Liebe weites Meer trocknet niemals aus." Mit den über 200 Jahre alten Versen der vietnamesischen Dichterin Hô Xuân Huong beginnt die neue Graphic Novel von Mikael Ross ausgesprochen poetisch. Man könnte also mutmaßen, dass es diesmal wenigstens ein bisschen romantisch wird. Aber weit gefehlt.
Mitten in der Betonhitze des Berliner Sommers entdecken Tâm und ihr Schulspezl Alex etwas sehr Gruseliges. Im Gebüsch hinter ihrer Wohnsiedlung liegt eine Tüte mit einem abgetrennten Finger. Ameisenüberströmt, aber definitiv ein Finger. Dazu kommt ein Zettel mit dem eingangs zitierten Gedicht. Und ein Hackmesser!
Ist das Mädchen im Auto Oper? Oder Täterin?
Tâm erinnert sich an eine sehr merkwürdige Begegnung kürzlich auf dem Polenmarkt: Mit ihrem Bruder Dennis war sie einkaufen und knallte auf den eben angeschafften Inlineskates in ein Auto. Es gab Kratzer. Beim Durchreichen eines Adresszettels für die Schadensabwicklung wurden die beiden auf ein gut sichtbares Hackmesser angesprochen. Das hatte Dennis für den im Restaurant kochenden Vater besorgt. Man wurde sich sofort einig, und im plötzlich einsetzenden Platzregen suchten die Geschwister dann auch schnell das Weite.

Es scheint einen Zusammenhang zu geben, und bald entspinnt sich ein beinharter Krimi. Fragt sich nur, ob das Mädchen aus dem Wagen nun Opfer ist oder Täterin? Vielleicht auch beides? Bei den Recherchen von Tâm und Dennis spitzt sich die Sache zu, wird ziemlich actionreich, und Comic-Autor Mikael Ross läuft in einer Mischung aus Noir-Film-Elementen und Manga-Ästhetik zur zeichnerischen Hochform auf.
Das Hin und Her zwischen vietnamesischen Migranten und hart-aber-herzlichem Spreevolk ist locker-lässig und liegt dem inzwischen 40-Jährigen sehr viel mehr als das Geplänkel im Bonner und Wiener Klassikmilieu mit einem dauernd zornigen Ludwig van Beethoven. Dem hat Ross in der Biografie "Goldjunge" versucht, ein rotziges Denkmal zu setzen.
Ross kommt aus München - und ist über die Mode beim Comic gelandet
Leicht möglich, dass "Der verkehrte Himmel" - nach dem eingangs zitierten Vers von Hô Xuân Huong - wieder ein Erfolg wird. So, wie der 2018 erschienene Band "Der Umfall". Ross' Geschichte um einen geistig beeinträchtigten Jungen, der unbedingt nach Berlin zum AC/DC-Konzert möchte und dies trotz aller Hindernisse schafft, ist voller Empathie. Vor allem zeigt sie, wie sich Handicaps am Ende sogar in Stärken ummünzen lassen.

Ross, der übrigens aus München stammt und an der Bayerischen Staatsoper zum Theaterschneider ausgebildet wurde, hat immer schon leidenschaftlich gezeichnet. Und Umwege sind in der Comic-Branche keine Seltenheit. Deshalb hat es noch ein paar Opernstationen samt Modestudium in Berlin und zwei Gastsemester in Brüssel gebraucht, um sich just im Kernland der Bandes dessinées, also der gezeichneten Bildergeschichten, darüber klar zu werden, dass es exakt in diese Richtung gehen sollte. Das Ergebnis spricht für sich.
Mikael Ross: "Der verkehrte Himmel" (Avant Verlag, 344 Seiten, 28 Euro)