Edgar Reitz: Heimat als unerfüllte Sehnsucht
Er ist eine Legende, nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Mit seiner einzigartigen "Heimat"-Trilogie ausgehend vom fiktiven Dorf Schabach im Hunsrück schrieb er Filmgeschichte und erzählt Zeitgeschichte. Ein Epos von über 60 Stunden, in dem 30 Jahre Arbeit stecken. Ein Chronist der Sehnsucht. Edgar Reitz gehörte zu den Gründervätern des "Neuen Deutschen Films" und den Unterzeichnern des "Oberhausener Manifests", die "Papas Kino" für tot erklärten. Für den Einzelkämpfer stand immer die Kinokunst immer im Vordergrund. Am 1. November feiert er seinen 90. Geburtstag. Und machte uns und sich selbst ein Geschenk mit seiner spannenden und empfehlenswerten Autobiografie "Filmzeit, Lebenszeit".
Edgar Reitz: "Als Filmemacher habe ich mein visuelles Gedächtnis ein Leben lang trainiert"
AZ: Herr Reitz, Sie gehen bei Ihren Erinnerungen sehr ins Detail. Wie entstand diese Autobiografie? Basiert sie auf Tagebüchern, auf bestimmten Bildern im Kopf?
EDGAR REITZ: Als die Pandemie losging, habe ich mich hingesetzt und jeden Tag geschrieben, über zwei Jahre hinweg. Das Resultat ist ein fast 700 Seiten umfassendes dickes Buch. Wenn ich zwischendurch noch die Chronologie überprüfen und Daten verifizieren wollte, konnte ich auf zahlreiche Quellen zurückgreifen wie die über Jahre gesammelte Korrespondenz und natürlich auf meine Filme, an die auch private Erinnerungen geknüpft waren. Als Filmemacher habe ich mein visuelles Gedächtnis ein Leben lang trainiert. Das Tagebuchführen habe ich immer wieder aufgegeben. Alle meine Tagebücher sind Fragmente, zwei, drei Wochen und dann war's vorbei.
"Die zweite Heimat" ist noch bis November im Astor Kino im Arri an bestimmten Tagen zu sehen. Wo würden Sie heute Ihre Heimat verorten? In München? In dem Haus am Englischen Garten, in dem Sie seit über 30 Jahren wohnen?
Der Heimatbegriff ist belastet und mit so vielen Ansprüchen versehen, dass es schwierig ist, eine Antwort zu geben. Die Räume, die man sich als Erwachsener geschaffen hat mit seinen Bezugssystemen, seinen sogenannten Vernetzungen, das muss für den Bedarf herhalten. Das, was man Heimat nennt, ist aber etwas so Widersprüchliches und auch so Unsicheres, dass ich diesem Thema im Buch ein großes Kapitel gewidmet habe.
Sie haben Ihr Dorf Morbach als junger Mensch verlassen. Hat man nicht – gerade im letzten Drittel des Lebens – eine Sehnsucht nach Heimat, Heimweh nach einem Ort, wo man sich zu Hause fühlt, einem geschützten Raum vielleicht mit positiven Kindheitserinnerungen?
Zunächst einmal wollte ich nichts wie weg, da wäre das Dableiben schmerzhaft gewesen. Was in der Literatur, im Tourismus oder der Schlagerproduktion unter dem Begriff Heimat in der Welt herumgeistert, das stößt mich ab. Aber es gibt schon etwas, das immer wieder als unerfüllter Sehnsuchtspunkt auftaucht. Ein deutsches, romantisches Gefühl. Das deutsche Wort Heimat ist ja nicht übersetzbar.
Hoffnung auf Kino als Heimatersatz
Wenn Sie zurückkommen in den Hunsrück, sind Sie da gerührt oder berührt?
Ich habe über die Landschaft, in der ich Kind gewesen bin, jahrzehntelang Filme realisiert. Da ist sozusagen eine Kunstlandschaft entstanden. Wenn ich zurückkomme, fühle ich mich fremd. Insofern spielt sich das, was wir Heimat nennen, in der Fantasie ab. Eine betretbare und verfügbare Heimat kenne ich nicht.
Sie haben 1996 mal gesagt, Heimat stehe für etwas, das wir verloren haben, und vielleicht im Kino als Heimatersatz wiederfinden.
Das ist nach wie vor meine Hoffnung.
Eine der Anekdoten in Ihrem Buch erzählt davon, wie Josef von Sternberg, der Regisseur von "Der blaue Engel", Sie bei einem Besuch in München warnte, sich daran zu gewöhnen, über Geld zu verfügen. Haben Sie sich daran gehalten?
Ich habe mich nicht immer daran gehalten, aber auch bei mir standen künstlerische Fragen immer im Vordergrund. Von Sternberg hat in Kauf genommen, in Armut zu sterben. Mit seiner Autobiografie reiste er durch Deutschland und verkaufte ein paar Exemplare. Aber davon konnte er nicht leben. Daran gemessen, habe ich es doch gut.
Digitalisierung von "Die zweite Heimat": "Der Film wurde neu geboren"
Ihr Sohn Christian hat "Die zweite Heimat" digitalisiert. Inwieweit verändern sich im digitalen Zeitalter die Geschichten im Kino?
Die Filmkunst ist ein Kind der Technik, von Anfang an. Und alle technischen Neuentwicklungen bringen auch künstlerisch neue Möglichkeiten, ob die Erfindung des Farbfilms oder des Tonfilms, die des Fernsehens. Heute erleben wir das Internet und die Streamingportale mit weltweit grenzenlosen Wegen der Veröffentlichung. Wohin das führt, können wir noch nicht ahnen. Aber die Filmkunst lebt. Ich liebe es, in meinen Filmen zwischen Farbe und schwarz-weiß zu wechseln, eine künstlerische Idee, die im digitalen Zeitalter endlich perfekt funktioniert, im Gegensatz zum analogen Zeitalter wo die Übergänge misslangen. So schön wie nach der Digitalisierung habe ich zu Beispiel "Die zweite Heimat" auf der großen Leinwand noch nicht gesehen. Der Film wurde digital neu geboren.
In italienischen Zeitungen hieß es, "Heimat" sei die Mutter aller Serien.
Die Serie ist ein kommerzielles Format. "Heimat" sehe ich nicht als Serie, sondern als einen filmischen Roman, als großes erzählerisches und episches Werk. Der Zuschauer begleitet den Film, der Teil der eigenen Weltsicht wird.
Hat es Sie manchmal geärgert, dass andere Filme von Ihnen weniger Aufmerksamkeit erhielten?
Meine frühen Spielfilme sind jetzt wieder gut im Umlauf. "Der Schneider von Ulm" wird gerade neu entdeckt und "Die Reise nach Wien" läuft bundesweit in einigen Kinos. Und das nach über 40 Jahren! Für einen Künstler oder Filmemacher ist es das Schönste, wenn das Werk Bestand hat und nicht nach einer Saison wieder verschwindet.
"Das Fernsehen wird zum großen Teil technisch überrollt"
Sie gehörten zu den Unterzeichnern des "Oberhausener Manifests" von 1962. Es gab die Parole aus: "Papas Kino ist tot". Damals herrschte Aufbruchstimmung, ein Wir-Gefühl, auch bei denen, die nicht zur Oberhausener Gruppe gehörten.
Das Generations-Wir spielte sich vor allem in der Filmpolitik ab. Die Oberhausener waren keine Gruppe. Ich kann mich nicht an Freundschaften oder Kooperationen erinnern. Jeder war Einzelkämpfer, die meisten sind schon bald im Kulturbetrieb verloren gegangen, von den 26 Unterzeichnern haben nur zehn überhaupt Spielfilme gemacht, die anderen fielen schnell dem Vergessen anheim.
Bald darauf begann die Ära des "Neuen Deutschen Films". Bestehen da noch Kontakte?
Da entstanden Freundschaften. Zum Beispiel mit Margarethe von Trotta oder Volker Schlöndorff. Mit Werner Herzog habe ich zusammengearbeitet, wir schreiben uns. Aber beim Filmemachen ist jeder allein mit seinem Team.
Dafür Konkurrenz, mit der es schwierig ist, umzugehen?
Schon wahr.
Ihre Filme entstanden in Zusammenarbeit mit dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Das steht derzeit durch Skandale, exorbitant hohe Gehälter und riesige Pensionsansprüche in der Kritik. Brauchen wir dieses Fernsehen noch?
Das Fernsehen wird zum großen Teil technisch überrollt, die Zeiten mit der Bildröhre im Wohnzimmer sind für immer vorbei. Das Internet und die neuen Veröffentlichungsformen verändern die Situation sehr. Auf dem Gebiet von Information und Nachrichten halte ich das öffentlich-rechtliche System für notwendig, weil das, was wir Wahrheit nennen, heute in den Medien Verhandlungssache ist. Wir benötigen eine Ethik der öffentlichen Information und die ist anders nicht herstellbar. Allerdings ist das System marode bis auf die Knochen. Diese Versorgungsansprüche, das Pöstchengeschacher und die Hierarchien, das hat sich alles überholt.
War es damals anders?
Das deutsche Fernsehen galt in den 1970er und 1980er Jahren als das beste der Welt. Das waren die Zeiten von Günter Rohrbach als Leiter des WDR-Fernsehspiels. Wir haben alle mit dem WDR gearbeitet. Ohne den WDR hätte nichts funktioniert, hätte es den Neuen Deutschen Film nicht gegeben, keinen Fassbinder, keinen Wenders, keinen Rosa von Praunheim. Die damaligen Verantwortlichen kamen vom Kino, verfügten über Filmkunstwissen und brannten für den Film. Das ist vorbei.
"Eine Autobiografie entsteht ähnlich wie ein Roman"
Wir haben am Anfang über das Erinnern gesprochen, was ist mit dem Vergessen? Sind das zwei Seiten einer Medaille? Gibt es ein Gleichgewicht zwischen den beiden Stadien?
In der Erinnerung setzen wir aus einzelnen Buchstücken im Gehirn unser Leben neu zusammen. Eine wirkliche Erinnerung 1:1 gibt es nicht. Unsere Lebensgeschichten, wie auch mein Buch, sind im Grund eine Fiktion. Eine Autobiografie entsteht ähnlich wie ein Roman. Das Schreiben wird zur Vergessensarbeit. Erinnerung und Vergessen bedingen sich gegenseitig. Niemand kann die Wahrheit einer Erinnerung garantieren. Erinnerungen und Wahrheit sind miteinander verwandt, aber nicht dasselbe.
Das Alter schieben wir immer weg, erst ist 30 alt, dann 40... Sie feiern Ihren 90. Geburtstag. Wie fühlt sich das an?
Es hat was Bedrückendes und gleichzeitig was Lächerliches. Lächerlich, weil man das Alter von alleine erreicht. Es ist in keiner Weise ein Verdienst. Man soll sich für etwas feiern lassen, wofür man nichts kann.
Aber Sie werden nicht nur wegen der Zahl gefeiert, sondern für das, was Sie in Ihrer Lebenszeit erreicht haben.
Ich bin auf einige Dinge stolz und würde sagen, das habe ich gut hingekriegt im Leben. Aber diese Dinge haben nichts mit dem Alter zu tun.
Planen Sie noch ein Filmprojekt?
Das ist in meinem Alter eine reine Gesundheitsfrage. Ich würde gerne einen Film realisieren und habe auch jede Menge Lust darauf, denn ich habe nie in meinem Leben unter Stoffmangel gelitten.
Was bedeutet heute Glück für Sie?
Ob ich glücklich bin, weiß ich immer erst nachher. Im Zustand des wahren Glücks hat man kein Glücksgefühl, da ist man ganz bei sich, Machen und Fühlen sind eins. Und das gelingt sehr selten. Von allen Produktionen war die glücklichste "Die zweite Heimat". Da war ich sieben Jahre lang glücklich, habe mir jeden Wunsch filmisch erfüllt. Und das sieht man dem Film auch an. Nach der viertägigen Premiere in München und der sechstägigen beim Filmfestival in Venedig wurde mir bei den Standing Ovations vor Hunderten von Menschen klar, dieser einzigartige Moment wiederholt sich nie wieder. Solches Glück kann man nur einmal im Leben haben.
Aber die Sehnsucht nach dem Glück hört nicht auf, oder?
Die bleibt. In der Jugend ist sie stärker. Mit 14 träumt man mehr vom Glück als mit 80 oder 90.
Haben Sie sich manchmal gefragt, womit habe ich diesen Erfolg verdient, waren Sie darüber überrascht?
In der Arbeit habe ich mir das nie gesagt, das war ja ständiger Kampf. Aber im Privaten, in der Liebe, da empfinde ich eine große Dankbarkeit. Zu lieben und geliebt zu werden ist das größte Geschenk. Ich bin in der glücklichen Lage, fast 35 Jahre mit einer Frau zusammen zu leben, die ich liebe.
Edgar Reitz: "Filmzeit, Lebenszeit" (Rowohlt, 677 S., 30 Euro)
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