Der Roman "Lichtungen" von Iris Wolff
Ein junger Mann und eine junge Frau, die in Europa unterwegs sind und die Freiheit suchen. Ihre Beziehung zueinander ist vertraut und doch nicht ganz geklärt, sie bewegt sich irgendwo zwischen Freundschaft und Liebesbeziehung.
So erscheinen Lev und Kato zu Beginn von Iris Wolffs neuem Roman "Lichtungen". Die folgenden Kapitel führen immer weiter zurück in die Vergangenheit. Wie Iris Wolff selbst stammen ihre beiden Protagonisten aus Siebenbürgen, einer Gegend mitten in Rumänien, die seit jeher durch Mehrsprachigkeit und die Koexistenz verschiedener Kulturen geprägt ist.
Aus der relativ großen äußeren Freiheit der zeitgenössischen Gegenwart (die dafür innere Limitierungen immer deutlicher hervortreten lässt) geht es zurück in eine Zeit voller Einschränkungen und Ängste. An der Macht ist Ceausescu, der "ein Hoffnungsträger" war. "Doch der hatte offensichtlich den Verstand verloren, seit er in China gewesen war; oder es war ihm zu Kopf gestiegen, dass man ihm in Deutschland das Bundesverdienstkreuz umgehängt hatte." Ein ruhiges Leben hat vor allem, wer das Regime nicht in Frage stellt.
Das Menschliche überdauert jedes politische System
Politisch-zeitgeschichtliche Aspekte spielen bei Iris Wolff stets eine große Rolle und sind doch nie ihr eigentliches Thema. Wie schon in ihrem letzten unter anderem für den Bayerischen Buchpreis nominierten Buch "Die Unschärfe der Welt" liegt ihr Fokus auch im aktuellen Roman auf den Menschen und ihren Beziehungen zueinander. Vielvölkerstaat, Mehrsprachigkeit und die Einschränkungen durch das Regime erscheinen als etablierter, selbstverständlicher Hintergrund für die Figuren und ihre Geschichten.
Gewisse Sachverhalte müssen nicht explizit ausgesprochen werden, um sich zu offenbaren. Wolff bewegt sich in der Sprachtradition eines Volkes, das mit Zensur lebt. Man gewöhnt sich daran, die Dinge implizit auszudrücken, dabei entstehen Codes, die von den richtigen Menschen richtig verstanden werden. Die unumstößliche Wahrhaftigkeit, die dabei dennoch aus den Worten spricht, schafft bei Wolff einen klaren und zugleich hoch poetischen Erzählduktus.
Lebenslange Verbindungen, kurze Begegnungen
"Gut war man geworden. Im Wegsehen, Weghören. Auch im Wegdenken", heißt es an einer Stelle. Und nach dieser Erkenntnis geht es einfach weiter mit der Geschichte, die sich vor dem Hintergrund des Wegsehens, Weghörens und Wegdenkens immer wieder um individuelle Lebensentscheidungen dreht. Es geht um den kunstsinnigen Camil, der mit Kato zusammen Amselmelodien in Noten setzt - und außerdem alle möglichen falschen Ausweisdokumente beschafft. Und es geht um Levs Großvater Ferry, der von einem Leben im Ausland träumt, seit Jahren auf seine Ausreisepapiere wartet und schließlich beschließt, Rumänien illegal zu verlassen. Und es geht um Lev, der ein feinsinniger Beobachter ist und irgendwann entscheidet, nicht mehr zur Schule zu gehen und lieber mit seinen Brüdern im Wald zu arbeiten.
Für jedes Anliegen finden sich Verbündete. Mal geht es um lebenslange Verbindungen, mal nur um kurze Begegnungen voller Kraft und Poesie. Und immer wieder zeigt sich, dass das universell Menschliche stärker und langlebiger ist als jedes politische Regime. Dieser Fokus gibt dem Roman eine zuversichtliche Grundhaltung, egal wie tief die Abgründe des Beschriebenen sind.
Das Wesentliche hinter den Worten
Für Lev erscheint seine Freundin Kato als Verkörperung jener poetisch-humanistischen Stärke. Sie tritt in sein Leben als er bettlägerig und schwach ist, sie schenkt ihm einen Kater, den sie Kahlil (arabisch "guter Freund") nennt, einfach weil sie spürt, dass er für Lev bestimmt ist. Kato scheint stets mehr zu sehen als das Offensichtliche. "Er mochte diese Übereinkunft zwischen ihnen, das Wesentliche zu wissen, anderes unberührt zu lassen."
In der Beziehung zwischen Lev und Kato liegt das Wesentliche hinter und zwischen den Worten - genau wie in Iris Wolffs literarischem Universum. In "Lichtungen" lässt sie in kurzen Sätzen auf weniger als 300 Seiten eine Welt entstehen, die alles in sich trägt. Wunderbar, wahrhaftig und sehr lesenswert!
Iris Wolff: "Lichtungen" (Klett-Cotta, 256 Seiten, 24 Euro)
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