"Der Mann im roten Rock": Über die Kunst, das Leben und die Liebe

Julian Barnes lädt mit "Der Mann im roten Rock" ein zu einer ungemein anregenden Bildungsreise in die Belle Époque.
Volker Isfort
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Der britische Autor Julian Barnes.
picture alliance / Marta Perez/EFE/dpa Der britische Autor Julian Barnes.

Im Juni 1885 reisten die drei Freunde Prinz Edmont de Polignac, Robert de Montesquiou-Fezensac und der Arzt Samuel Jean Pozzi zu einer "intellektuellen und dekorativen" Einkaufstour von Paris nach London. Museen, Bibliotheken und britischen Schneidern wird der Besuch abgestattet, ebenso dem amerikanisch-britischen Autor Henry James.

Zwischen Biografie und Kulturgeschichte

Dies nimmt der Britische Schriftsteller Julian Barnes zum Anlass, die Leben der drei Reisenden aufzurollen. Dabei steht Pozzi klar im Zentrum dieses einzigartigen Geflechts zwischen Biografie und Kulturgeschichte, das auch den Autor selbst in die Zeit führt, in der er sich am besten auskennt - die Zeit seines Säulenheiligen Gustave Flaubert. Ihm widmete Barnes mit "Flauberts Papagei" (1984) eines seines geistreichsten Werke.

Flaubert und Wilde lassen grüßen

Natürlich lugt Flaubert auch in dieser Kulturgeschichte immer wieder zwischen den Zeilen hervor, genau wie Oscar Wilde, auch so ein Pendler zwischen England und Frankreich. Barnes gibt an, dass ihn John Singer Sargents Porträt von Pozzi, der ihm unbekannt war, zu dieser Biografie geführt habe, aber im Nachwort schwingt noch ein anderer Grund mit.

"Chauvinismus ist eine Erscheinungsform der Ignoranz"

Mit dem erstaunlichen Satz "Chauvinismus ist eine Erscheinungsform der Ignoranz", hatte Pozzi sein dreibändiges Werk über Gynäkologie eingeläutet, dass Jahrzehnte lang ein französisches Standardwerk blieb. Und dieser wissbegierige Kosmopolit mit italienischen Wurzeln, der die Welt bereiste, die Kunst genoss, die Wissenschaft vorantrieb, steht natürlich exemplarisch als Gegenpol zu den Stimmen, die Barnes zuletzt in seiner englischen Heimat hören musste. "Das eigene Land für mächtiger zu halten, als es in Wirklichkeit ist - ,klein, aber oho' oder gar ,die Nummer eins im englischsprachigen Raum' - ist ein auch unter britischen Politikern verbreiteter Irrglaube."

Ohne Verblendung in der Belle Époque schwelgen

Barnes schwelgt in der Kultur der Belle Époque ohne auch nur einen Moment in die Gefahr zu geraten, die Vergangenheit zu idealisieren. Denn die "ferne, dekadente, hektische, gewalttätige, narzisstische und neurotische" Epoche ist die Zeit des fanatischen Antisemitismus (Dreyfus-Affäre), der Homosexuellen-Prozesse (Oscar Wilde), der katastrophalen hygienischen Operationsbedingungen, der heißblütigen Beleidigungen, die in tödlichen Duellen enden.

Der rote Faden: Samuel Pozzi

Barnes roter Faden durch dieses Buch, Samuel Pozzi, "war überall", wie der Autor wiederholt erstaunt feststellt. Der Liebesheirat, die schnell ins Ehegefängnis führte, entkam Pozzi auch an der Seite des größten Schauspielstars Sarah Bernhardt (der er als Arzt ein Leben lang treu blieb) und vielen anderen. Schließlich war er "ekelhaft gutaussehend", jedenfalls in den Worten der Prinzessin von Monaco.

Die tragische Geschichte des Don Juan Pozzi

Dass auch Pozzi neben seinen adeligen Freunden seinen literarischen Schatten in Marcel Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" warf, mag nicht weiter verwundern. Pozzi war Freund der Familie Proust, half dem jungen Marcel, dem Militärdienst zu entgehen und hatte in dessen Bruder Robert einen treuen Assistenten im Hôpital Broca. Pozzi, der Don Juan, wird 1918 inmitten des Gemetzels des Ersten Weltkriegs ausgerechnet von einem seiner letzten Patienten erschossen, den er nicht von der Impotenz kurieren kann. "In einem Roman würde das allzu konstruiert wirken", schreibt Barnes. Und so fügt sich diese Anekdote ein in das große Wechselspiel zwischen Kunst und Leben, das ja schon immer ein zentrales Thema in Barnes' Werk war.

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Ein weiteres Meisterstück von Julian Barnes

Wer sonst - außer ihm - könnte mit so traumwandlerischer Sicherheit die Leser von den Klatschgeschichten der Gebrüder Goncourt über die französische Erfindung der Arterienklemme bis hin zur Geschichte des Dandytums leiten und all die disparaten Teile dieses Buches allein mit Witz und Eleganz zusammenfügen? Nach seinem zu Recht mit dem Booker-Preis ausgezeichneten Roman "Vom Ende einer Geschichte" (2011) hatte Barnes als Romancier zuletzt nicht vollends überzeugen können. Als Essayist und Kulturgeschichtler aber hat er nach seinem überzeugenden Sammelband über Malerei ("Kunst sehen") nun mit "Der Mann im roten Rock" ein weiteres Meisterstück geschrieben. An der Hand dieses Reiseführers geht man gerne überall hin.

Julian Barnes: "Der Mann im roten Rock" (Kiepenheuer & Witsch, 300 Seiten, 24 Euro)

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