Interview

Das Gehirn als größtes Sexorgan: Das Buch der Spiegel-Kolumnistin Heike Kleen

Die Spiegel-Sexkolumnistin und Autorin analysiert unser Liebesleben. Ihr Fazit: Gleichberechtigung und offene Kommunikation sorgen für besseren Sex
Franziska Meinhardt |
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„Sex macht in einer sexualisierten Welt vielen Menschen auch Angst“, das kann man ändern, meint Heike Kleen.
„Sex macht in einer sexualisierten Welt vielen Menschen auch Angst“, das kann man ändern, meint Heike Kleen. © Landshuter Zeitung

Wir sind übersexualisiert, aber ohne Sex? Was macht Leistungsdruck mit unserem Liebesleben? Heike Kleen hat sich damit lange beschäftigt.

AZ: Frau Kleen, Verhaltensforscher haben festgestellt, dass die Bonobos, die friedlichsten aller Primaten, ständig Sex haben...
Heike Kleen: Ja, die Bonobos regeln mit Sex ganz viel. Sie haben vor dem Essen erst mal Sex und teilen dann schön. Sie haben auch mehr Sex als wir - zum Stressabbau, und sie leben im Matriarchat: Die Frauen bestimmen, wo es langgeht. Das funktioniert sehr gut, und ich wünschte mir manchmal, wir hätten mehr von den Bonobos gelernt als von den Schimpansen.

Wäre also die Welt besser, wenn wir alle mehr Sex hätten?
Wenn wir nur um des lieben Friedens willen mehr Sex hätten, dieser Sex aber nicht frauenfreundlich wäre, also die Frauen lieber Nein sagen würden - was sie leider nicht so gut gelernt haben - wird die Welt nicht friedlicher. Dann haben wir viel unterschwellige Aggression bei den Frauen, die irgendwann ausbricht. Das wird zwar mal höchste Zeit, aber macht die Welt nicht zu einem besseren Ort.

Heike Kleen: Kolumnistin im Selbstversuch.
Heike Kleen: Kolumnistin im Selbstversuch. © Eva Häberle

Sex ist einerseits die natürlichste Sache der Welt, andererseits scheint er auch die komplizierteste zu sein.
Der Sex dient ursprünglich der Fortpflanzung. Aber da wir Menschen außerordentlich komplex sind und in einer sehr komplexen Welt leben, ist Sex viel mehr. Die Frage ist: Passen Männer und Frauen überhaupt zusammen? Als ich Schlecky Silberstein zu seinem Buch „Der Penis-Fluch“ interviewte, sagte er, dass die Männer mit ihrem Testosteron einen viel höheren Sexdruck als Frauen hätten. Mein persönlicher Erfahrungswert beruht zwar nur auf anekdotischer Evidenz, aber: Das stimmt, viele Frauen können auch gut ohne Sex leben. Das könnte aber auch an zu viel schlechtem Sex liegen. Wenn es am Testosteron liegt, dass Männer den größeren Sexdruck haben und sie deswegen auch aggressiver sind, risikoreicher durchs Leben gehen, die Gefängnisse füllen und die Kriminalstatistiken, dann denke ich: Wir könnten auch Testosteronblocker ins Trinkwasser geben - und die Welt wird ein friedlicherer Ort! Dann haben wir zwar weniger Sex - aber wir haben aktuell sowieso weniger Sex, das wurde statistisch nachgewiesen...

…also: weniger Testosteron und weniger Sex?
Jetzt mal im Ernst: Die Menschen haben aktuell tatsächlich weniger Sex, obwohl wir Sex überall sehen, in jeder Serie, in jeder Werbung. Wir sind „oversexed and underfucked“, weil die persönliche Begegnung viel angstbesetzter ist. Wir können auf Tinder oder in den sozialen Medien flirten, aber wenn wir nebeneinandersitzen und Händchen halten sollen, ist die Angst groß. Das ist ein Riesenproblem: Die jungen Menschen sehen ab zehn, elf oder 12 Jahren schon Pornos, die wildesten Dinge, die ich bis heute nicht gesehen habe, obwohl ich Sex-Kolumnistin bin - und sollen dann dem anderen Geschlecht auf der Bettkante begegnen. Ich glaube, Sex macht in einer sexualisierten Welt vielen Menschen nicht nur Druck, sondern auch Angst.

Sie meinen die Angst, funktionieren zu müssen?
Ja. Frauen sollen multiple Orgasmen haben und sind froh, wenn sie überhaupt einen haben. Männer denken, sie müssen immer wollen und immer können und ganz standfest sein, haben aber vielleicht Erektionsprobleme oder zu viele komische Sachen geguckt, sodass sie von einer „normalen“ zwischenmenschlichen Begegnung gar nicht mehr erregt werden.

Man hat heute auch mehr Vergleiche und tauscht sich mehr aus als früher.
Genau. Frauen haben untereinander nicht immer so offen geredet wie heute. Kürzlich erzählte mir eine Freundin, dass sie ihrer Schwiegermutter einen Auflegevibrator geschenkt hat - und die war begeistert. Es gibt heute Sextoys, mit denen auch Frauen auf Knopfdruck schnell zum Orgasmus kommen können. Das ist eine Revolution.

"Pretty Woman“ mit Julia Roberts und Richard Gere: Aber ist das hier ein Paar das sexuell auf Augenhöhe ist?
"Pretty Woman“ mit Julia Roberts und Richard Gere: Aber ist das hier ein Paar das sexuell auf Augenhöhe ist? © picture alliance/dpa/ARTE G.E.I.E.

Aber es scheint nicht gleich gewertet zu werden: Pornokonsum gilt heute als „normal“, aber Sextoys für Frauen scheinen immer noch ein Tabu zu sein.
Ja, wieso wird da mit zweierlei Maß gemessen? Die einen befriedigen sich beim Pornoschauen, aber Frauen sollen nicht über ihre Sextoy-Erfahrung reden? Frauen werden schnell in die „Schlampen“-Ecke gestellt, wenn sie über Sex und ihre Bedürfnisse reden. Der Spagat zwischen „Heilige“ und „Hure“ ist immer noch in unseren Köpfen. Gleichzeitig muss man sagen: Männer stehen auch unter Druck. Das Patriarchat hat ihnen beigebracht, dass sie performen, erobern, die Frau rumkriegen müssen. Wir haben alle Bilder in unseren Köpfen, die uns das Leben schwermachen.

Überrascht, wie nett sie im Swingerclub waren

Auf der anderen Seite haben wir aber auch einen freieren Umgang mit Nacktheit und Sex. In Ihrem Buch „ZusammenKommen“ erwähnen Sie einen Besuch im Swingerclub.
Das war ein Swingerclub in Ostdeutschland, hochpreisig und hochwertig, im Schloss Milkersdorf, da fand die „Schlossnacht der Masken“ statt. Man geht mit Augenbinde und Umhang hin und zahlt relativ viel Geld, weil der Preis das Niveau regelt und es ein schönes Buffet, einen DJ und Programm gibt. Das ist eine tolle, besondere Atmosphäre. Unten wird geredet, getanzt, gegessen, im ersten Stock geht es zur Sache. Beim Dresscode stand: „Abendgarderobe - aber wer möchte, kann auch nur in Dessous kommen oder nackt.“ Da habe ich mit meinem naiven Gemüt gedacht, das macht ja kein Mensch - und dann stehst du da und es kommt plötzlich jemand mit offenem Umhang und darunter nichts oder sogenannte Ouvert-Dessous, das heißt, die entscheidenden Körperteile sind frei. Das hatte ich nicht erwartet, aber man feiert sich dort dafür. Und man schaut da auch nicht so hin - das ist wie am FKK-Strand, wenn da so viel Nacktheit ist.
Wie war der Umgang miteinander?
Es war eine liebevolle, angenehme Atmosphäre. Ich habe in meinem Buch geschrieben, dass der Swingerclub eine Art Knigge-Bootcamp sei, weil dort klar ist: Ein Nein ist ein Nein. Man geht sehr freundlich miteinander um und wird nicht dumm angeblafft oder angeflirtet, wie einem das in einer Bar passieren kann. Es waren Frauen aller Altersklassen und aller Konfektionsgrößen dort, die sich und ihren Körper feierten und die dafür gefeiert wurden - und das hat mir gefallen. Es war ganz anders als in den sozialen Medien, wo man das Gefühl hat, es sehen jetzt alle nur noch perfekt aus und werden immer dünner. So gesehen hatte das etwas Befreiendes.
Kam bei Ihnen denn auch eine erotische Stimmung auf?
Vorher dachte ich, okay, ich lasse jetzt mal los. Aber ich merkte, Erotik war bei mir überhaupt nicht da. Als ich das dem Swingerclub-Betreiber René erzählte, sagte er: Du redest einfach zu viel. Ich habe natürlich mit den Leuten viel gesabbelt, ich wollte alles wissen: Wo kommt ihr her, wie lange macht ihr das schon, wer weiß davon? Ich war als Journalistin da.
Ist es eher aufregend, wenn man als Sex-Kolumnistin all diese Dinge recherchieren kann, oder müssen Sie sich da überwinden?
Ich musste meine Komfortzone jedes Mal verlassen. Ich war auch bei einem Dominus in einem Studio und habe mich anketten lassen, um einfach mal zu spüren, wie ist das denn und wie sieht das aus? Mein Humorzentrum wird bei solchen Sexpeditionen immer schnell aktiviert, mein Erotikzentrum braucht ein bisschen länger, das ist vielleicht manchmal hinderlich, aber vielleicht auch ein Schutz.

Herausforderung in der Lebensmitte

Frauen geraten häufiger in Situationen, in denen sie sexuell ausgenutzt werden.
Ich habe seit 2000 in vielen Talkshows gearbeitet und hatte mit prominenten Gästen zu tun, damals zu 80 oder 90 Prozent Männer. Frauen fanden meist nur als „Kamerafutter“ statt, damals hieß es, ganz hart formuliert: „Wir brauchen noch Titten für den Donnerstag.“ Das bedeutete: Inhalt haben wir in der Sendung genug, jetzt fehlt nur noch eine hübsche Frau ohne Meinung mit Oberweite.

Sie beschreiben die Erfahrung einer jungen Kollegin, die einen Talkshowgast im Hotel treffen sollte. Der hat darauf bestanden, das Gespräch in seinem Zimmer zu führen, wo er sie dann sexuell belästigt hat. Als sie sich das nicht gefallen ließ, hat er seinen Auftritt platzen lassen. Aber sie hat das damals nicht erzählt, erst später Ihnen - warum?
Weil sie sich das nicht traute. Weil sie dachte, es fällt auf sie zurück, und dann sagt man, sie sei die „Schlampe“, die ihn angeheizt habe. Aber er ist der prominente Mann, den man für die Show braucht. Das war noch vor MeToo. Es gab damals oft übergriffige Situationen, da war mal schnell irgendwo eine Hand unter dem Pulli, es war wirklich gruselig. Als ich die Kolumne dazu veröffentlicht habe, haben sich viele Kolleginnen gemeldet und mir weitere erschreckende Situationen geschildert.

Sie schreiben auch, heterosexuelle Paare könnten in Sachen Sex viel von der queeren Community lernen.
Ja, die queere Community hat sich meist schon in jungen Jahren mit der eigenen Sexualität auseinandergesetzt und sich fragen müssen: Wer bin ich eigentlich? Wen liebe ich? Wie liebe ich? Sie musste mehr darüber kommunizieren, um Gleichgesinnte zu finden, und hat sicherlich mehr darüber gelesen. Wir heteronormative Menschen in der Lebensmitte sind hingegen mit romantischen Komödien aufgewachsen: Der Mann muss die Frau erobern, irgendwann hat es geklappt und sie verschwinden im Schlafzimmer, nach drei Sekunden Vorspiel ist die Frau beim Orgasmus. So was haben wir seit unserer Jugend gesehen, und das ist dann der große Sinn des Lebens: dass die Frau einen Mann findet. Aber alles, was danach passiert, ist ja das eigentlich Interessante. Trotzdem ist in unseren Köpfen noch dieses Bild: Die Frau muss vom Prinzen gesehen, gerettet, aufs Pferd gehievt und in den Sonnenuntergang begleitet werden.

Dabei gibt es in Beziehungen gerade in späteren Jahren neue Herausforderungen.
Ja, und es fällt uns schwer, miteinander zu reden. In der Lebensmitte lässt bei Männern oft die Erektionsfähigkeit nach. Das merkt der Mann, kann aber nicht mit der Frau drüber reden, sondern weicht der Frau und der Sexualität aus. Und die Frau sitzt da und denkt, er weicht mir aus, ich bin nicht mehr attraktiv. Dann ziehen sich beide zurück, weil sie gelernt haben, wie sie angeblich sein müssen. Aber da gibt es ja noch ganz andere Dinge, wie etwa Slow Sex, Zusammensein, ohne dass Penetration stattfinden muss. Wenn wir Sexualität einfach mal neu definieren, dann würden wir uns ja viel lockerer machen können und könnten das Zusammensein mehr genießen.

Wie sollen Paare damit umgehen, wenn einer keine Lust hat?
Es ist völlig normal, dass eine oder einer mehr oder weniger Lust hat. Wichtig ist, dass Frauen nicht das Gefühl haben, sie müssten Charity-Sex leisten, weil er will und sie finanziell von ihm abhängig ist. Wenn Frauen Sex über sich ergehen lassen, kann das zu körperlichen Problemen und zu noch mehr Unlust führen. Wichtig ist aber, dass man darüber spricht.

Sie schreiben, man solle den Partner neu sehen lernen.
Einfach mal die Frage stellen: Was bewegt dich gerade, was beschäftigt dich, was wünscht du dir von unserer Beziehung? Das sind die erotischeren Fragen als zu sagen: Na, wollen wir schnell nach nebenan? Unser Gehirn ist unser größtes sexuelles Organ, unser Lustzentrum. Und gerade für Frauen kann ein Vorspiel auch darin bestehen, gesehen zu werden als Mensch, und nicht einfach so: Der will jetzt Sex und ich bin nun mal eine Frau. Sondern: Ich als Mensch bin für ihn interessant und aufregend.

Heike Kleen: „ZusammenKommen - Warum Gleichberechtigung sexy ist und Lust auf mehr macht“ (Penguin, 272 Seiten, 16 Euro)

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